Wenn das Feingefühl fehlt Asperger in der Highschool-Komödie, Autismus als Unterhaltungsstoff? Netflix wagt mit der neuen Serie "Atypical" einen Tabubruch und scheitert. VON LINA MUZUR |
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| | Kier Gilchrist in der Netflix-Serie "Atypical" © Greg Gayne/Netflix |
Nach außen hin vermitteln autistische Menschen oft den Eindruck stiller Weisheit, selbstgenügsam, abgekapselt, in ihren Handlungen wie hypnotisiert, am glücklichsten, wenn sie allein gelassen werden. Aber in ihrem Inneren tobt es. Sie können Reize aus der Umgebung nicht filtern und bekommen permanent zu viele Informationen. Von allen Seiten prasseln sie auf sie ein. Deshalb brauchen sie Routinen, feste Gewohnheiten, die ihre Tage strukturieren, Wiederholungen der immer gleichen Abläufe. Nur so können sie Ordnung in die Dinge bringen.
Der Held der neuen Netflix-Serie Atypical, die jetzt mit acht Folgen à 30 Minuten anläuft, wirkt nach außen wie ein ganz normaler 18-jähriger Junge, der mit den üblichen Teenagerproblemen zu kämpfen hat: überfürsorgliche Mutter, grobschlächtiger Vater, bemutternde Schwester, nervige Mitschüler, viel zu attraktive Therapeutin. Sam leidet am Asperger-Syndrom, einer Variante des Autismus, die mit hoher Intelligenz und niedrigem Einfühlungsvermögen einhergeht. Ähnlich wie der Blinde unfähig ist, die Welt leibhaftig zu sehen, ist Sam außerstande, das Innenleben von Personen wahrzunehmen.
In der Schule, wo er meist mit großen, schalldämpfenden Kopfhörern herumläuft, um die Außenwelt von sich fernzuhalten, wird er für einen Freak gehalten, was ihm durchaus bewusst ist: "Ich bin ein Spinner – das sagen jedenfalls die anderen." Trotzdem hat Sam einen ganz normalen Wunsch: Er möchte eine Freundin finden. Und ja, er möchte auch Sex haben.
Also versucht er, die Regeln des Flirtens zu erlernen. Er will eine Formel für Liebe finden. Er entwickelt eine Checkliste, anhand der er feststellen kann, ob er verliebt ist oder nicht. Nichts davon funktioniert. Denn Liebe lässt sich nicht standardisieren und schon gar nicht rationalisieren. Und da Sam weder Gesten noch Gesichtsausdrücke deuten kann, geschweige denn Zwischentöne oder Ironie, kann er auch die nonverbalen Signale der Liebe nicht verstehen. Außerdem, wie soll er jemals ein Mädchen finden, das seine ganzen Marotten erträgt? Sein Bedürfnis nach Beständigkeit, dem immer gleichen Fertiggericht, den immer gleichen Wegen, den immer gleichen Klamotten. Seine Direktheit und seine Unfähigkeit zu körperlicher Zärtlichkeit. Seine Obsession für Pinguine, über die er fanatische Vorträge hält und die er als wichtigsten Maßstab nimmt, um die Welt zu verstehen. Zum Beispiel weiß er, dass Pinguine ihr Leben lang bei einem Partner bleiben. Also will er das auch.
All das ist erstklassiger Stoff für eine neue Serie. Sam könnte mit seiner perfekten Mischung an sowohl tragischen als auch komischen Charaktermerkmalen – Inselbegabung, Hypersensibilität, soziale Tollpatschigkeit und Unfähigkeit zum Heucheln – der neue große Netfix-Held sein. Und dennoch scheint bei Atypical etwas schiefgelaufen zu sein.
Es fängt bei der Botschaft an. Sie lautet nämlich: "Keiner ist normal" und ist leider genau das, was man eine Plattitüde nennt. Im kurzen Making-of-Trailer zur Serie betont die Drehbuchautorin Robia Rashid, die sich bereits mit How I Met Your Mother hervorgetan hat, wie wichtig es ihr gewesen sei, zu zeigen, dass Sam auch nur ein gewöhnlicher Junge ist. Und der Regisseur Seth Gordon fügt hinzu: "Es ist so schön, an einer Serie mitzuwirken, in der es zwar um eine Person mit einer bestimmten Erkrankung geht, in der es gleichwohl nicht nur um diese Erkrankung geht". Entsprechend sagt Sam in einer Szene zu seinem besten Freund: "Manchmal wünschte ich, ich wäre normal." Worauf dieser weise antwortet: "Alter, keiner ist normal."
Apropos normal. Sam wächst tatsächlich in einer sehr normalen Familie auf, die in einem sehr normalen Vorstadthäuschen lebt und mit sehr normalen Problemen zu kämpfen hat. Sams Eltern sind wie alte Bekannte, man ist ihnen schon in unzähligen Sitcoms und Highschool-Serien begegnet. Die hingebungsvolle Mutter (gespielt von Jennifer Jason Leigh), die ihre Freizeit in der Autismus-Selbsthilfegruppe verbringt, stets etwas angespannt wirkt und sich deswegen einen jungen Liebhaber zulegt. Der etwas unbeholfene, dabei durchaus liebenswürdige Vater, der nur langsam lernt, seinen Sohn so zu akzeptieren, wie er ist, und die sportlich-taffe Schwester, die jetzt auch mal im Mittelpunkt stehen will. Sie alle sind unterkomplexe Figuren, Marionetten, die ihr Theater aufführen, allerdings zu facettenarm sind, um als wirkliche Menschen durchzugehen.
"Mama, ich möchte wirklich unbedingt mal Brüste sehen!"
Es könnte auch sein, dass bei Atypical einfach zu viel gewitzelt und gewimmert wird. In einer Szene geht Sam mit seinem Freund in eine Drogerie, um Kondome zu besorgen. Zuvor hat er einige Fragen an den Verkäufer: "Kann ich sie anprobieren, bevor ich sie kaufe?", "Kann ich sie zurückgeben, falls sie nicht passen?" In einer anderen sperrt er ein Mädchen in seinen Kleiderschrank, weil er ihr nerviges Gerede nicht mehr erträgt, was bei seinem Vater großes Entsetzen auslöst. Und in einer dritten sitzt er neben seiner Mutter im Auto und verkündet ganz ernst: "Mama, ich möchte wirklich unbedingt mal Brüste sehen!" Da ist er also wieder, der ganz normale Teenager, der einfach nur Brüste sehen will.
Es verstärkt sich der Eindruck, dass Atypical zwar vorgibt, Höheres zu betreiben, nämlich die Zuschauer für Autismus zu sensibilisieren, aufzuklären, Enttabuisierung zu betreiben, aber eigentlich nur die Einschaltquoten im Sinn hat. Als hätten die Serienmacher ein uraltes Rezept rausgeholt, alle Zutaten sorgfältig ausgewählt, die Mengen genau abgemessen, und dann am Schluss das entscheidende Gewürz vergessen: Feingefühl.
Dabei bezeichnen selbst Mitglieder der amerikanischen Autism Community, die vorab ihre Meinung zur ersten Folge von Atypical abgegeben haben, die Serie insgesamt als glaubwürdig und gut recherchiert. Einer von ihnen, ein fast 40-jähriger Pastor aus Georgia, lobt zwar die schauspielerische Leistung des Hauptdarstellers Kier Gilchrist, bemerkt aber zugleich, dass manche Autismus-Stereotypen wie die Tendenz, alles wörtlich zu nehmen und die Unfähigkeit, Augenkontakt zu halten, etwas überstrapaziert werden, wodurch Sam zur Karikatur eines Autisten verkomme.
Und das ist dann wohl der schlimmste Vorwurf, den man dieser Serie machen kann: Eine der komplexesten und vielgestaltigsten Krankheiten unserer Zeit auf Stereotype zu reduzieren. Insofern mag es vielleicht unfair sein,den Produzenten Kalkül vorzuwerfen. Aber am Ende scheitert Atypical wohl schlichtweg daran, dass sich Autismus nicht pauschalisieren lässt, dass er einfach kein guter Stoff für eine ganz normale Netflix-Komödie ist.
Lina Muzur, geboren in Sarajevo, arbeitet als Leitende Lektorin beim Aufbau Verlag in Berlin. Sie ist Mitglied von "10 nach 8". Sie wollen der Diskussion unter dem Text folgen? Hier geht es zum Kommentarbereich. |
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