Fünf vor 8:00: Gruselreportagen und Halbwissen - Die Morgenkolumne heute von Michael Thumann

 
Wenn dieser Newsletter nicht richtig angezeigt wird, klicken Sie bitte hier.

 
 FÜNF VOR 8:00
24.02.2017
 
 
 
 


 
Gruselreportagen und Halbwissen
 
Im Umgang mit Journalisten hat die Türkei keine Hemmungen mehr. Wenn keine Korrespondenten mehr ins Land kommen, wird die Berichterstattung negativer ausfallen.
VON MICHAEL THUMANN

Es war der beste Korrespondentenort von allen. Bosporus, Meerbrise, Weltstadt, ein Flughafen mit Direktverbindungen in viele Länder, Themen ohne Ende. Damals vor zehn Jahren, als ich nach Istanbul zog. Als ich im Herbst 2013 zurück nach Deutschland ging, schien die beste Zeit schon vorbei zu sein. Die Gezi-Proteste gescheitert. Der große Meister in Ankara rachsüchtig. Das Land zweigespalten. Diesen Monat ist zum ersten Mal ein deutscher Auslandskorrespondent in türkischen Polizeigewahrsam genommen worden. Und kein Protest, keine Intervention der Bundesregierung konnte ihm da bisher heraushelfen.

Was haben sie aus dem Land gemacht?

Eine Festung der Angst. Drei meiner Freunde, türkische Journalisten, sitzen seit Monaten im Gefängnis, ohne Anklageschrift, einfach so. Sie hatten mir vor über zehn Jahren dazu geraten, in die Türkei zu kommen, wo man frei schreiben, gut arbeiten und angenehm leben könne. Ihr Land hat sie, mich und viele andere böse überrascht.

Die Türkei hat mit großem Abstand mehr gefangene Journalisten als jedes andere Land auf der Welt. Mehr als China, als Saudi-Arabien, als der Iran. Sie blockiert mehr Websites als jeder andere Staat, sie manipuliert soziale Medien, wann immer es passt. Sie verhaftet Autoren vom Schreibtisch weg. Wer schreibt, zensiert sich besser selbst. Vor Kurzem hat die Hürriyet ein Interview mit Nobelpreisträger Orhan Pamuk geschreddert, weil der sich für ein Nein im Verfassungsreferendum ausgesprochen hat.

Der Fall Deniz Yücel aber hebt das türkische Problem auf eine neue Stufe. Der Welt-Korrespondent ist eben nicht, wie in der FAS auf sehr irritierende Weise zu lesen stand, der "Türke vom Dienst" eines deutschen Verlagshauses. Er hat einen deutschen und einen türkischen Pass. Er ist deutscher Korrespondent. Und als solcher sitzt er nun im türkischen Polizeigewahrsam. Diese Art der Bedrohung ist neu.

Die schlechteste Berichterstattung bekommen Länder, die gar keine Journalisten hineinlassen

Autoritäre Regime halten sich in der Regel zurück, wenn es um ausländische Berichterstatter geht. An Auslandskorrespondenten vergreifen sich sonst eher Geiselnehmer oder Terrorgruppen. Staaten scheuen den diplomatischen Eklat, sie vermeiden das internationale Aufsehen, sie wollen nicht die Ausländer im Land aufschrecken. Der türkischen Regierung ist das offenbar alles egal. Der Fall Deniz Yücel ist die Grenzüberschreitung, und wer Grenzen überschreitet, den hält nichts mehr auf.

Es gibt, grob aufgeteilt, vier Sorten von Korrespondentenorten. Erstens: die Hauptstadt oder Metropole eines zentralen Landes, von dem aus man vielleicht noch andere Länder bereist. Washington ist so ein Ort, Peking, Kairo, Moskau, Berlin. Als ich nach Istanbul ging, war es genauso ein Drehkreuz. Dann gibt es die kleineren Korrespondentenorte, die oft nur ein Land mittlerer Größe abdecken. In die meisten Länder aber reisen Korrespondenten nur, um einen Bericht zu schreiben – und sind dann wieder weg. Und dann gibt es Länder, da fährt man gar nicht hin. Weil man kein Visum bekommt, weil man entführt oder auf sonstige hinterlistige Weise der Freiheit beraubt wird. Nordkorea, Syrien eben.

Die schlechteste Presse haben Länder der beiden letzten Kategorien. Wenn Journalisten nur mal vorbeischauen und Halbwissen abspulen müssen, ohne Gefühl für das Land. Die schlechteste Berichterstattung bekommen Länder, die gar keine Journalisten hineinlassen oder sie so strangulieren, dass sie wegbleiben. Aus der Ferne kann sich immer keiner vorstellen, dass es Normalität in einem verschlossenen Land gibt, dass sich Menschen lauschige Ecken einrichten, dass vieles doch funktioniert. Darüber berichten nur Korrespondenten. 

Früher gab es Gruselreportagen aus der Türkei

Die Türkei war mal ein Land, in dem die meisten Journalisten nur vorbeischauten. Korrespondenten wohnten früher in Athen oder Wien und fuhren für Gruselreportagen in die Türkei. Filmregisseure drehten Schocker wie den Midnight Express. Deshalb arbeitete die türkische Regierung seit den 1990er Jahren so beharrlich daran, Korrespondenten ins Land zu locken und das Image zu polieren. Mit großem Erfolg. Es war in meinen Jahren in Istanbul, als die Stadt voller Korrespondenten war und das Türkei-Bild in der Welt so gut wie nie zuvor.

Präsident Erdoğan dreht diesen Trend um. Seine Bürokraten glauben, sie könnten negative Berichterstattung verhindern, indem sie Zugänge verrammeln und Menschen einsperren. Schon heute sind Korrespondenten gegangen, ohne Nachfolger. Andere sorgen sich um ihre Sicherheit. Der Fall Deniz Yücel wirft Schockwellen – und lässt fragen, was denn bitte noch alles kommt.

Ohne Korrespondenten jedenfalls würde die Türkei – von außen betrachtet – aussehen wie die Hölle auf Erden. 
 
 


 
WEITERFÜHRENDE LINKS
FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG  Der Fall Deniz Yücel
DIE WELT  Warum uns Deniz' wunderbare Anarchie so fehlt
THE GUARDIAN  How does it feel to live in Turkey right now?



SERIE
 
 
 
 
FÜNF VOR 8:00
 
Die Morgenkolumne auf ZEIT ONLINE
 
Fünf vor 8:00 ist die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE. An jedem Werktag kommentieren abwechselnd unter anderem Michael Thumann, Theo Sommer, Alice Bota, Matthias Naß, Martin Klingst und Jochen Bittner.