Freitext: Viktor Martinowitsch: Wer schmarotzt, zahlt Strafe

 
Wenn dieser Newsletter nicht richtig angezeigt wird, klicken Sie bitte hier.

 

07.02.2017
 
 
 
 
Freitext


Wer schmarotzt, zahlt Strafe
 
 
Der Staat unterstützt Bedürftige. Nicht so in Belarus. Die „Parasitensteuer“ verpflichtet Arbeitslose jetzt, extra Abgaben zu zahlen. Ein Rückfall in finstere Zeiten
VON VIKTOR MARTINOWITSCH

 
Straßenverkäuferin in Zhytkavichy, Belarus © Viktor Drachev/AFP/Getty Images
 
Am 13. Januar 1964 wurde der Schriftsteller Joseph Brodsky wegen Parasitentums verhaftet. Nach dreiwöchiger psychiatrischer Begutachtung wurde er zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt und mit mehreren Schwerverbrechern in eine Strafkolonie überführt. 1991, in den letzten Monaten der UdSSR, löste das Gesetz „Über den Beschäftigungsstand der Bevölkerung“ den sowjetischen Parasiten-Ukas ab und legalisierte den Arbeitslosenstatus.

Im April 2015, 24 Jahre nachdem der vom Präsidium des obersten Sowjets der UdSSR erlassene Parasiten-Ukas kassiert worden war, unterzeichnete der Präsident der postsowjetischen Republik Belarus, Alexander Lukaschenko, das Dekret Nr. 3 „Über die Vorbeugung des Sozialschmarotzertums“. Das Dekret sagte all jenen den Kampf an, die über kein geregeltes Einkommen verfügten und deshalb keinen „Beitrag zur Finanzierung von Staatsausgaben“ leisten.

Nein, die Schmarotzer sollen nicht zum Holzfällen nach Sibirien geschickt werden. Die „Parasiten“ werden einfach dazu verpflichtet, jährlich 180 Dollar Steuern an den Staat zu entrichten. Nichtarbeitende Menschen ohne jedes Einkommen sind nun verpflichtet, Staats-, Polizei- und KGB-Beamte zu finanzieren (die Ausgaben für das Militär sind in Belarus höher als die für medizinische Versorgung und Bildung zusammen).

Die Veröffentlichung des Dekrets sorgte für erheblichen Unmut, der sich in Gesellschaften, in denen offener Protest wegen befürchteter Strafverfolgung nicht infrage kommt, wie üblich in Tausenden wütenden Kommentaren in den sozialen Netzwerken äußerte. Wiederum nach dem üblichen Muster ließ die Regierung anderthalb Jahre ins Land gehen, bis sich der Unmut gelegt hatte. Vor einigen Wochen dann, im Dezember vergangenen Jahres, als ganz Europa Weihnachten und Neujahr feierte, starteten sie die konzertierte Offensive gegen die Arbeitslosen.

Zudringliche Umarmung der Heimat

Bis zum 5. Januar hatten die Steuerbehörden 252.000 Schreiben an Parasiten und Schmarotzer verschickt. Insgesamt schätzt der Ministerpräsident der Republik Belarus die Zahl auf 445.000 – reichlich viele für ein Land mit viereinhalb Millionen Werktätigen und einer offiziellen Arbeitslosenquote von einem Prozent. Aber in den offiziellen Statistiken nach Widersprüchen zu suchen, ist müßig, mich interessiert an der ganzen Sache die menschliche Seite.

Das Verfahren ist simpel: Wenn du so ein Schreiben von der Steuerbehörde bekommen hast, kannst du entweder binnen drei Wochen die geforderten 180 Dollar zahlen oder darauf warten, dass die Prozessmaschinerie anläuft und dich in die Situation begeben, in der sich die Heldin meines Romans Lacus Gaudii wiederfand, deren Leben durch einen belarussischen Gerichtsbescheid auf den Kopf gestellt und in eine wilde Flucht verwandelt wurde. Der zudringlichen Umarmung der Heimat kann man sich mitunter kaum entziehen.


...

Den gesamten Freitext lesen Sie auf ZEIT ONLINE.


Sie wollen der Diskussion unter dem Text folgen? Hier geht es zum Kommentarbereich.
  VERLAGSANGEBOT
Lesegenuss pur!
Lesegenuss pur!
Lernen Sie jetzt DIE ZEIT als E-Paper, App, Audio und für E-Reader kennen! Lehnen Sie sich zurück und erleben Sie die neue Art des ZEIT-Lesens. Mehr erfahren >>