Schon im vergangenen Herbst, Barack Obama regierte noch im Weißen Haus, war aus Washington zu hören, ganz oben auf der Liste der amerikanischen Sicherheitssorgen stehe nicht Russland, nicht China, auch nicht der IS. Ganz oben stehe Nordkorea.
Tatsächlich hat das Regime in Pyöngyang im Jahr 2016 die Zahl seiner Atomversuche und Raketentests deutlich erhöht. In seiner Neujahrsansprache verkündete Diktator Kim Jong-un, die Vorbereitungen für den Test einer Interkontinentalrakete (ICBM) hätten ihre "finale Phase" erreicht.
Am vergangenen Sonntagmorgen feuerte Nordkorea aber erst einmal wieder eine Mittelstreckenrakete ab, die nach 500 Kilometern im Japanischen Meer nieder ging – genau an dem Wochenende, an dem US-Präsident Donald Trump den japanischen Premier Shinzo Abe zu Gast hatte. Wenn schon provozieren, dann richtig.
Ein ICBM-Test allerdings wäre noch einmal etwas ganz anderes. Damit näherte sich Kim einer roten Linie, die das Weiße Haus – anders als in Syrien – offiziell zwar nie gezogen hat, an der Nordkorea aber keinen Zweifel haben sollte. Eine funktionstüchtige, mit einem Nuklearsprengkopf bestückte Interkontinentalrakete, die Amerika erreichen kann, würde kein US-Präsident tatenlos hinnehmen. Donald Trump schon gar nicht.
In Fernost baut sich eine Krise auf, die hierzulande bisher kaum wahrgenommen wird. Das Jahr 2017, sagt Lee Sang-hwa, im Außenministerium zu Seoul für Nordkoreas Atomprogramm zuständig, werde "kritisch" sein. "Wir stehen an einem Wendepunkt." Nicht nur wegen der technischen Fortschritte, die Nordkorea gemacht habe, sondern auch wegen des politischen Umfelds.
Erst Südkorea, dann Nato
Was ihn am meisten beunruhige, so der Diplomat Lee: Nordkorea nähere sich der "Zone der Immunität". Danach sei die Entwicklung zum Nuklearwaffenstaat nicht mehr umkehrbar. "Nordkorea kommt dieser gefährlichen Linie sehr, sehr nahe."
Es ist kein Zufall, dass die erste Auslandsreise des neuen US-Verteidigungsministers James Mattis nach Südkorea führte; sein Antrittsbesuch bei der Nato in Brüssel folgte erst danach, in dieser Woche. Mattis hat Amerikas Bündnistreue gegenüber Südkorea bekräftigt, an der Donald Trump im Wahlkampf noch Zweifel geweckt hatte.
Doch die Treueschwüre können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Südkoreas und Amerikas Interessen sich keineswegs decken. Wie sollte es auch anders sein? Zwischen Nordkorea und den USA liegt der Pazifische Ozean, hingegen sind es von der Demilitarisierten Zone zwischen Nord- und Südkorea bis nach Seoul mit seinen elf Millionen Einwohnern nur sechzig Kilometer.
Während Militärfachleute in den USA über mögliche Präventivschläge diskutieren, fürchten die Südkoreaner die Folgen eines amerikanischen Angriffs auf Kims Nuklearanlagen. Denn ein Gegenschlag des Nordens auch mit "konventionellen" Waffen wäre verheerend. Zehntausende von Artilleriegeschossen und Kurzstreckenraketen sind auf Seoul gerichtet – nicht auszudenken, sie würden tatsächlich eingesetzt.
Die Sorgen wegen Thaad
Die Südkoreaner haben gelernt mit der Bedrohung zu leben, ähnlich wie die Deutschen in den Zeiten des Kalten Krieges. Aber etwas ändert sich. Wen man in Seoul dieser Tage auch trifft: Die Sorgen wachsen. Bisher, heißt es, sei nur Pyöngyang unberechenbar gewesen. Aber sei Washington unter Trump etwa berechenbarer?
Pentagon-Chef Mattis, im Vergleich zu Donald Trump ein Ausbund an Seriosität, hat diese Sorgen nicht zerstreuen können. Bei seinem Besuch ging es vor allem um das neue amerikanische Raketenabwehrsystem Thaad (Terminal High Altitude Area Defense), das möglichst noch in diesem Frühsommer installiert werden soll. Der Widerstand gegen Thaad ist groß, auch im Parlament. "Wir sind Sklaven der Angst geworden", sagt Kim Jong Dae, Abgeordneter der oppositionellen Gerechtigkeitspartei.
Hauptvorwurf der Gegner: Thaad, dessen Abschussanlage südlich der Hauptstadt sein werde, schütze hauptsächlich die amerikanischen Stützpunkte im Lande. Der Metropole Seoul aber biete das System nicht den geringsten Schutz. Im übrigen schaffe es im Verbund mit ähnlichen Systemen in Japan eine integrierte amerikanisch-japanisch-südkoreanische Raketenabwehr, die in Wahrheit auf China ziele. Das behauptet auch die Regierung in Peking, die mit großem diplomatischen und wirtschaftlichen Druck versucht, das Thaad-Projekt noch zu verhindern.
Rückkehr der "Sonnenscheinpolitik"?
Mitten in dieser Krise steht Südkorea ohne politische Führung da. Das Parlament hat am 9. Dezember beschlossen, Präsidentin Park Geun-hye wegen Korruption und Amtsmissbrauchs ihres Amtes zu entheben. Das Oberste Gericht des Landes wird in wenigen Wochen entscheiden, ob das rechtens ist. Wenn ja, wählt Südkorea innerhalb von sechzig Tagen einen neuen Präsidenten.
In diesem Fall gilt ein Sieg des liberalen Kandidaten Moon Jae-in als nahezu sicher. Moon, ein ehemaliger Menschenrechtsanwalt, möchte an die "Sonnenscheinpolitik" der früheren Präsidenten Kim Dae-jung und Roh Moo-hyun anknüpfen, eine Art koreanische Ostpolitik, um das Verhältnis zwischen den beiden Teilstaaten zu entspannen.
Gut möglich, das Thaad dann schon installiert ist. Gerade wurde im amerikanischen Repräsentantenhaus eine Resolution eingebracht, die ein schnelles Handeln bei der Raketenabwehr verlangt. Und Donald Trump hat nach Kim Jong-uns Neujahrsansprache per Tweet lakonisch erklärt, eine nordkoreanische Nuklearrakete, die Amerika bedrohe, werde es nicht geben. "It won’t happen."
Ein Nervenkrieg hat begonnen zwischen zwei Egomanen, die beide leicht die Nerven verlieren. Nordkoreas Atomprogramm könnte bald auf der Sorgenliste der ganzen Welt obenan stehen. |
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