Liebes Dr. acad. Sommer-Team,
neulich bei einem Vorsingen gewesen. Berufen wurde eine Person, die trotz fünfjähriger Postdoc-Zeit genau null Publikationen vorwies – dabei war die „Publikation einer Monographie sowie weiterer Schriften“ laut Ausschreibung „zwingend“. Dieser lapidare Umgang mit Ausschreibungskriterien empört mich zutiefst. Was tun? – Ratlos, X.
Liebe(r) X,
wie ärgerlich! Formal gesehen könnte das Berufungsverfahren nicht einmal zu beanstanden sein: Denn die Auswahlkriterien haben innerhalb einer gewissen Bandbreite den Charakter einer Theorie. Und als gute Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler setzen die Beteiligten alles daran, diese Theorie in der Praxis zu überprüfen und wenn möglich zu widerlegen. Ob dies die richtige Entscheidung der Kommission war – zeigt nur die Zeit. Einerseits.
Andererseits: Ihre Erwartung ist berechtigt, dass auf die offiziellen Spielregeln Verlass ist. Ihr Ärger, Ihre Ratlosigkeit und Empörung sind nachvollziehbar. Wohin mit all dieser Energie?
– Was immer Sie tun – tun Sie nur etwas, was Sie auch in zehn oder 15 Jahren eine gute Entscheidung finden würden. Keine Schnellschüsse, und nichts, womit Sie vor allem sich selbst schaden könnten. Und tun Sie es nicht alleine – „einsam gegen das System“ ist generell vertane Energie. Aussichtslos.
– Trennen Sie die Enttäuschung, dass Sie – trotz Erfüllung der Kriterien – nicht berufen wurden, von der Verärgerung, dass (und wie) jemand anderes – trotz Nicht-Erfüllung der Kriterien – berufen wurde. Das sind zwei verschiedene Bühnen. Ersteres ist frustrierend, aber Ihre individuelle Angelegenheit; letzteres ein politisches Thema, welches mit offiziellen und inoffiziellen Spielregeln zu tun hat.
– Überlegen Sie, welche Botschaft Sie mit Wort und Tat verbreiten wollen. Schwierig sind Botschaften „gegen“ etwas (z.B. „An der Universität X herrscht das Böse!“). Es bewähren sich statt dessen Botschaften „für“ etwas (z.B. „Gute Personalauswahl fängt bei der Stellenausschreibung an!“).
– Sollten Sie gelegentlich selber in die Situation gelangen, bei einer Berufungskommission (oder einem anderen Auswahlverfahren) mitzuwirken, nehmen Sie sich vor, aus dieser leidvollen Erfahrung zu lernen – beispielsweise, indem Sie die Kriterien realistischer formulieren oder von vornherein den Fall mitdenken, dass jemand einzelne davon nicht erfüllt, den Sie aber trotzdem gerne hätten. Werden Sie das gute Beispiel, nicht das schlechte.
Nutzen Sie Ihren Zorn über das Erlebte als Schwung für Ihr eigenes Vorankommen, für Ihren Weg in Forschung und Lehre – und sparen Sie einen kleinen Teil auf für systemverändernde Maßnahmen. Nicht „um jeden Preis“ und solange die Wunde noch offen ist, sondern dann, wenn der Moment gekommen ist. Er wird kommen.
Dr. Boris Schmidt ist Coach, Berater und Mediator in Berlin. Er schreibt für das Coachingnetz Wissenschaft als "Dr. acad. Sommer".
PS: Disclaimer! Dr. acad. Sommer hat zu Ihrem Anliegen die Rechtsabteilung konsultiert – und drei verschiedene Einschätzungen erhalten. Das heißt: vor Gericht wäre alles möglich, auch „formal alles einwandfrei“.