10 nach 8: Simone Rosa Miller über die politische Linke

 
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06.02.2017
 
 
 
 
10 nach 8


Scham in Stolz verwandeln
 
Soziale Minderheiten und sozial Benachteiligte werden politisch gegeneinander ausgespielt. Sie müssen sich endlich solidarisieren und gemeinsam gegen Missachtung wehren.
VON SIMONE ROSA MILLER

Teilnehmerinnen des Christopher Street Day in Weimar © dpa
 
Teilnehmerinnen des Christopher Street Day in Weimar © dpa
 
 

Die Linke hat ein Problem. Natürlich nicht nur eins, sondern viele, aber dieses eine brennt ihr gerade besonders auf der Seele. Dennspätestens seit Trumps Wahlsieg gibt es eine Diagnose für ihr Scheitern, für ihren eigenen Beitrag zum Aufstieg der Neuen Rechten im Westen: die Identitätspolitik. Die Linke habe sich zu sehr mit den Befindlichkeiten sozialer Minderheiten befasst, habe dadurch den Anschluss an die breite Gesellschaft verloren.

Gender-Studies statt Kapital-Lektüre, Transsex-Toiletten statt Mietenpolitik, Political Correctness statt soziale Gerechtigkeit – linker Politik im und außerhalb des Parlaments wird vorgeworfen, ihre eigene Herzensangelegenheit verraten zu haben. Die soziale Frage wird dabei zur vernachlässigten Kontrahentin der Identitätspolitik erklärt.

Diese Kritik ist wichtig. Wer könnte bestreiten, dass eine selbstkritische und kontroverse Auseinandersetzung innerhalb des linken Spektrums mit der eigenen Rhetorik und Agenda nicht mehr als überfällig wäre? Aber macht es Sinn, soziale und symbolische Anerkennung derart gegeneinander zu stellen? Müssen wir uns einen transgender-Beamten und einen heterosexuellen Arbeitslosen wirklich als politische Antithesen vorstellen, als Widersacher im Kampf um linke Gunst? Die Schwierigkeiten dieser Frontstellung sind augenscheinlich: Symbolische Minderwertigkeit führt oft auch zu sozialer Prekarität. Berufe, die überwiegend von Frauen ausgeführt werden, sind schlechter bezahlt – man denke an den Pflege- und Erziehungssektor. Für Trans-Menschen, People of Colour, Menschen mit Handicaps ist der Zugang zu gewünschten Jobs, Wohnungen und Dienstleistungen oft erschwert, ihr Einkommen unterdurchschnittlich.

Tabuisierung sexueller Identitäten

Und auch soziale Prekarität geht häufig Hand in Hand mit symbolischer Missachtung. Wenig Geld, mangelndes Wissen, fehlerhafte Grammatik – all das mindert das öffentliche Ansehen, reduziert den Respekt, der einem entgegengebracht wird. Die falsche Adresse, schlechte Klamotten und eine sichtbare Zahnlücke können in den Augen öffentlicher Institutionen wie Gerichten, Ämtern und Bildungseinrichtungen selbst jemandes Glaubwürdigkeit infrage stellen.

Die zugespitzte Neuauflage der Debatte um Umverteilung und Anerkennung kann nur dann produktiv sein, wenn sie diese Verschränkungen mitdenkt. Vielleicht sollten wir den Blick also auf die Gemeinsamkeiten der "Schrägen" und "Abgehängten" richten und danach fragen, welche sozialen Erfahrungen sie miteinander teilen.

Die AfD schürt derzeit die Angst vor dem "Diktat des Regebogens".Wörtlich wendet sie sich beispielsweise ihre "Magdeburger Erklärung gegen Frühsexualisierung" dagegen, "dass unsere Kinder in Schule und Kita mit scham- und persönlichkeitsverletzenden Inhalten in Wort, Bild und Ton konfrontiert werden". Gleichgeschlechtliche Liebes- und Lebensformen, genau wie sexuelle Identitäten zwischen den beiden Geschlechtern, sollen, wenn es nach der AfD geht, wieder tabuisiert werden.

Mottenkiste der Beschämung

Die AfD versucht also, die Queers wieder auf ihren angestammten Platz zu verweisen. Im Subtext der Magdeburger Erklärung schlummert die überkommene Vorstellung: "Sollen die doch froh sein, dass sie in ihren Schlafzimmern machen können, was sie wollen. Aber wir wollen damit nicht belästigt werden, schon gleich gar nicht öffentlich". "Die" sind also nicht einfach anders als die heterosexuelle Mehrheit, sondern sie sind auf beschämende Art und Weise anormal. Die Thematisierung von queeren Lebensweisen wird als Angriff auf die eigene heterosexuelle Integrität und das eigene Schamgefühl gewertet. Statt Differenz anzuerkennen, greift die AfD also tief in die Mottenkiste der Beschämung.

Das Gefühl der Scham ist eine der großen Konstanten in der Geschichte der Queers. Die Angst davor, in der eigenen Familie und der Öffentlichkeit als pervers, krank und widerwärtig verunglimpft zu werden, macht den Schrank (noch heute) für viele zum sicheren Versteck. Die Verkehrung der Scham in Stolz dagegen war und ist der politische Motor ihrer Emanzipation.

Deklassierung als kollektives Problem

Scham lähmt. Wer sich schämt, schweigt. Doch die Anlässe für soziale Scham haben sich in den letzten drei Jahrzehnten potenziert. Nicht für wohlsituierte Queers, sondern für die sogenannten Abgehängten. Heute gilt ein mittelguter Hauptschulabschluss oft nicht mehr als Bildungsgrad, sondern als Ticket fürs Abstellgleis der Bildungsbahn. Ein Hartz-IV-Ausweis bescheinigt nicht mehr den Anspruch auf gesellschaftliche Solidarität, sondern wird als amtlich-beglaubigtes Indiz für Sozialschmarotzertum gelesen. Ein Akzent, der auf eine süd-östliche Herkunft deutet, wird nicht mit Mehrsprachigkeit, sondern mit Bildungsferne assoziiert.

"Abgehängte" scheinen inkompetent, faul, unwillig oder schlecht integriert. Niedrige Löhne, die Schwächung sozialer Sicherungssysteme bei gleichzeitiger Verschärfung staatlicher Sozialkontrolle, die Streichungen im sozialem Wohnungsbau und noch immer mangelnde Betreuungsangebote für Kinder und Jugendliche – die sozialen Folgen neoliberaler Strukturpolitik in den letzten drei Dekaden werden abgewälzt auf den ungenügenden Einzelnen. Der wurde nicht abgehängt, der hat angeblich abgehangen.

Demütigende Selbstwahrnehmung

Die "Abgehängten" teilen also mindestens eine soziale Erfahrung mit den "Schrägen": soziale Scham. Mitgefühl allerdings müssen sie deshalb noch lange nicht füreinander haben.Ein transgender-Beamter, der sich in der Männer-Toilette unter den verächtlichen bis bedrohlichen Blicken eines Arbeitslosen weg duckt, entlässt diesen vielleicht zehn Minuten später mit einer Auflage aus seinem Büro – wegen zu vieler erfolgloser Jobbewerbungen.

Diese beiden beschämen sich jedoch nicht nur gegenseitig, sie teilen auch eine Erfahrung epistemischer Gewalt miteinander. Für den transgender-Beamten gibt es keine richtige Toilette – es gibt weder eine "Unisex"- noch eine "Frauen und Queers"-Tür. Dafür aber zwei und nur zwei festgelegte Schubladen in den Köpfen aller Toiletten-Besucher. Das gesellschaftlich dominante Verständnis von Geschlechtsidentität nötigt ihm also Missachtungserfahrungen auf.

Dem Arbeitslosen hingegen wird suggeriert, seine prekäre Situation – der verlustige Arbeitsplatz, der Umzug an den Stadtrand, seine schwierige Bewerbungslage, die Auflagen vom Amt und der unfinanzierbare Urlaub – all das sei Effekt seines individuellen Versagens. Auch ihm legt das gesellschaftlich vorherrschende Verständnis von Eigenverantwortlichkeit und Leistungsgerechtigkeit also eine demütigende Selbst- und Fremdwahrnehmung nahe.

Politische Handlungsfähigkeit

Im Unterschied zum transgender-Beamten, der in der queeren Bewegung einen politischen Resonanzraum finden kann, fehlt unserem exemplarischen "Abgehängten" allerdings ein politischer Referenzrahmen, der seine soziale Deklassierung als kollektives Problem verstehbar macht.

Wie jede neue soziale Bewegung vor ihnen haben auch die Queers ihre Zeit gebraucht, um die Leidenserfahrungen Einzelner als geteiltes Problem einer Gruppe sichtbar zu machen und Begriffe zu finden, mit der die eigene Situation öffentlich erschließbar und vertretbar wurde. Stolz setzt Selbst-Bewusstsein voraus.

Vielleicht sind wir heute also an einem Punkt, an dem eine altbekannte, aber doch völlig neu zusammengewürfelte Gruppe der "Abgehängten" um ein neues, emanzipatorisches Selbst-Verständnis ringen muss. Verstehen sie und ihre Verbündeten den Zusammenhang von sozialer und symbolischer Missachtung noch besser, weitet sich vielleicht auch unser Blick für geteilte Missachtungserfahrungen, verfeinert sich unser Vokabular zur Beschreibung der Problemlage, entsteht politische Handlungsfähigkeit.

Verbündete suchen

Denn nicht Identitätspolitik an sich ist das Problem. Sie wird nur dort zur Gefahr, wo sie nicht dazu dient, vormals unerschlossene Missachtungserfahrungen einer Gruppe begreiflich und bekämpfbar zu machen, sondern dazu, legitime Anliegen anderer zugunsten eigener Privilegien zu diskreditieren. Rechte Identitätspolitik erschließt soziale Welt nicht, sie verzerrt den Blick auf sie.

Shame to Pride – die Verwandlung von Scham in Stolz könnten sich die "Abgehängten" also von den "Schrägen" abgucken. Denn obwohl der transgender-Beamte und der Arbeitslose einander peinigen können, gibt es doch auch gute Gründe für beide, im anderen einen Verbündeten zu suchen und zu finden. Im Kino würden sie sich nicht gegeneinander ausspielen lassen, sie würden sich zusammentun – so ähnlich wie im britischen Film Pride, wo sich queere Aktivisten im England der 80er Jahre mit streikenden Minenarbeitern solidarisieren. Und das Schönste an dieser Erzählung ist: Sie beruht auf einer wahren Geschichte.

Simone Rosa Miller lebt als freie Autorin in Berlin. Sie arbeitet als Kulturredakteurin beim Deutschlandradio Kultur, wo sie unter anderem die Philosophiesendung "Sein und Streit" moderiert. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".

 

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