Freitext: Katerina Poladjan: Das Leben der Kinder

 
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20.11.2017
 
 
 
 
Freitext


Das Leben der Kinder
 
 
Warum fragst du, ob wir gern lesen? Warum wohnst du nicht hier? Wieso willst du wissen, ob ich mich fremd fühle? Eine Woche zu Besuch bei Grundschülern in Anklam
VON KATERINA POLADJAN

 
© Piron Gillaume/https:unspash.com
 
Ich bin in Anklam. Eine Woche lang werde ich mit Grundschulkindern arbeiten. Das Thema: Wann fühle ich mich fremd.
 
Tag eins
 
Ich wohne in einem Hotel im Stadtkern. Mein Zimmer ist in freundlichen Rottönen gehalten, es gibt einen riesigen Fernseher, ein riesiges Badezimmer und ein riesiges Bett. Auf dem Kissen liegt das Neue Testament. Das ist gut. Beim Blättern stoße ich auf ein Stichwortverzeichnis mit dem Titel Wo findet man Hilfe. Ich schlage unter Erschöpfung nach und lande bei Psalm 90: Wir bringen unsre Jahre zu wie ein Geschwätz steht da und Erfreue uns nun wieder, nachdem du uns so lange plagtest. Zum Stichwort Trübsal finde ich: Aber er sprach zu ihnen: Wer ist unter euch, der sein einziges Schaf, wenn es ihm am Sabbat in eine Grube fällt, nicht ergreift und ihm heraushilft?
Ich mache den Fernseher an. Hape Kerkeling spricht über sein Coming-out. Hat er das nicht schon in den Neunzigern getan? Ich schalte den Fernseher wieder aus. Ich bin nervös. Ich habe Angst vor Kindern. Ich schlage nach unter Entscheidung, Jakobus 1: Ein Zweifler ist unbeständig auf all seinen Wegen. Nein, ich zweifle nicht.
 
Tag zwei
 
Das Frühstück ist üppig. Ei, Apfelschnitzchen, Wurst und Käse, Joghurt mit Schokostreuseln, zwei Brötchen, ein dunkles und ein helles. Alles gut?, fragt die Dame, die nur für mich aufgestanden ist. Alles gut. Die Brötchen sind vom Bäcker. Danke. Wo kommst du her? Aus Berlin. Aha, und was machst du hier? Mit Kindern arbeiten. Kinderarbeit? So was, ja. Aha – noch Kaffee? Ja. Man schließt hier alles. Was denn? Das Schwimmbad zum Beispiel, da fragt keiner, das wird einfach beschlossen. Wer? Behörden. Welche? Die Kinder haben nun kein Schwimmbad mehr, und so geht es mit allem, noch Kaffee? Ja. Du trinkst aber viel Kaffee. Ja. Und Berlin? Da kann man schwimmen. Siehst du. Ja. Seit fünfunddreißig Jahren bin ich hier. So lange schon? DDR. Ja. Immer habe ich gearbeitet, du auch? Nee. Ich habe sogar in Österreich gearbeitet. Ach. Aber die Mentalität ist dort anders. Wo? Na, in Österreich. Wie? Anders. Ach so. Hier, direkt nebenan, am Steintor, wurden Menschen geköpft. Oh. Noch Kaffee? Ja. Schmeckt’s? Sehr. Es steht viel in der Zeitung über unsere Stadt. Was? Wir haben keinen guten Ruf. Mist. Kompliziert. Ja.
 
Nach getaner Kinderarbeit schlendere ich durch die Stadt. Ich zähle sechs Apotheken, einen Buchladen, drei Schuhgeschäfte, vier Pflegeeinrichtungen, fünf Baustellen, vier Fußpflegesalons und fünf Kirchen. Der Marktplatz von Anklam ist eigenartig groß. Die Nikolaikirche ist neben der älteren Kirche St. Marien eines der markantesten Gebäude im Stadtbild. Benannt ist sie nach Nikolaus von Myra, einem äußerst vielseitigen Heiligen, der nicht nur vorweihnachtlich mit der Rute droht, sondern unter anderem Schutzpatron ist von Seefahrern, Binnenschiffern, Dieben, Apothekern, Gefängniswärtern, Fuhrleuten und Salzsiedern, Pilgern und Ministranten. Die Hansestädter in Anklam hatten vermutlich vor allem die Schutzfunktion für Fischer und Seefahrer im Sinn, als sie ihm die Kirche weihten. Der Kirchturm ist nur noch ein Stumpf. Nach einer Legende hat der Teufel persönlich sich den Pastor greifen wollen, um ihm das Genick zu brechen, weil dieser das Wort Gottes so überzeugend verkündete, dass niemand mehr Böses tat. Er griff daneben und verdrehte die Kirchturmspitze statt das Genick des Pastors. Die verdrehte Spitze hätte ich gerne gesehen, aber deutsche Truppen haben wenige Tage vor Ende des letzten Weltkrieges das Teufelswerk vollendet und höchstselbst den Kirchturm heruntergeschossen.
 
Die Fragen der Kinder gehen mir durch den Kopf. Warum fragst du, ob wir gern lesen? Warum wohnst du nicht hier? Wieso willst du wissen, ob ich mich fremd fühle? Wann fühlst du dich denn fremd, Frau Katerina?
Jetzt fühle ich mich fremd. In einem Drogeriemarkt kaufe ich Nüsse. Vor der Fahrschule stehen fünf Jugendliche zusammen. Einem fehlt ein Bein. Sie rauchen. Sie haben gelbe Gesichter. Sie hören Musik und ich höre, Scheiße, Scheiße, Scheiße. Nein, ist nicht alles Scheiße, will ich sagen, aber ich halte lieber den Mund.
Nach fünf ist kaum noch jemand auf der Straße. Es ist dunkel. Meine Schritte hallen durch die Straßen. Mischa, ein Junge aus der Ukraine, der seit einem Jahr in Anklam lebt, sagte: Ich habe Mischa. Das heißt, ich heiße Mischa, flüsterte ihm seine Tischnachbarin zu. Mischa stand auf und ging aus dem Klassenzimmer. Ich habe auf die Uhr gesehen, er blieb fast fünfzehn Minuten weg. Als er wiederkam, nahm er einen schwarzen Stift und malte einen Planeten. Daneben schrieb er: Auf Planet alle gut, Tiere gut, auch Menschen gut, Straßen gut und Monster auch gut. Seine Wangen röteten sich und am Ende des Vormittags erzählte mir seine Lehrerin, Mischa gehe immer viel zu spät ins Bett, das sei so üblich in der Ukraine, das sei schwierig, da prallten Welten aufeinander.


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