Fünf vor 8:00: Die Welt wartet nicht - Die Morgenkolumne heute von Michael Thumann

 
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FÜNF VOR 8:00
24.11.2017
 
 
 
   
 
Die Welt wartet nicht
 
Ohne neue Regierung steht Deutschland in der Außenpolitik still. Das hat Folgen für uns, für Europa und die Welt. Wenn wir uns von der Welt abmelden, kommt sie zu uns.
VON MICHAEL THUMANN
 
   
 
 
   
 
   
Anfang November in Washington hörte ich ihn wieder, diesen Satz: "Wenn die USA ausfallen, kann Deutschland mehr tun, um den freien Teil der Welt zu retten?" Ich lächelte nur müde und antwortete, dass wir überhaupt erst mal eine neue Regierung zustande kriegen müssen. Jetzt haben wir keine, zumindest keine mit Mehrheit im neuen Bundestag. Viel hängt an Lindner und Schulz. Wenn die beiden empfindlichen Männer mit Bart nicht aus ihrem Gefängnis von Vorfestlegungen und Glaubwürdigkeitspanik ausbrechen, dann steht Deutschland noch lange still. Und das hat Folgen für uns, Europa und die Welt.
 
Deutsche Außenpolitik ist ja nicht erst seit der Wahl im Lähmungszustand, sondern schon seit Beginn des Wahlkampfs im Sommer. Deutschland verblasst auf der Weltbühne, während viele Länder von Berlin Führung oder zumindest Einmischung erwarten, damit nicht allein Putin, Xi Jinping und am Rande Trump die Agenda bestimmen. Berlin fehlt auch in Europa, wo doch nun mit dem Mercron-Tandem der große Aufbruch kommen sollte. Schon beim Sozialgipfel in Göteborg war noch nicht mal ein deutscher Minister präsent. Über die dringend fälligen EU-Reformen kann Deutschland im Dezember kaum befinden. Schon gar nicht über den Umbau der Eurozone. In der EU wird vieles liegen bleiben. Und in der Welt läuft es ohne uns.
 
Beispiel Türkei: Präsident Erdoğan will die Ausweitung der Zollunion mit der EU und seinen autoritären Westentaschenstaat. Beides geht nicht, aber die EU-27 haben dazu keine gemeinsame Politik. Siehe auch die laue bis ablehnende Haltung der anderen zur deutschen Forderung nach einer Suspendierung der EU-Beitrittsverhandlungen mit Ankara. Die Türkei registriert das sehr aufmerksam und versucht die EU zu spalten. Paris wird geschont, Berlin attackiert. Um wenigstens eine der Geiseln Erdoğans aus der Haft zu bekommen, musste die Bundesregierung auf die Dienste des Rosneft-Aufsichtsratschefs Gerhard Schröder zurückgreifen. Emmanuel Macron reichte ein Telefonat mit Erdoğan, um einen inhaftierten französischen Journalisten freizubekommen. Wie viel Gewicht hat Deutschland noch?
 
Beispiel Ukraine: Die Minsker Verhandlungen über die von prorussischen Separatisten besetzte Ostukraine kommen nicht voran. Das liegt vor allem an Russland und auch der Ukraine. Aber der Berliner Politik kommt die Kraft abhanden, diesen mühsamen Prozess im Normandie-Format (mit Russland, Ukraine, Deutschland, Frankreich) voranzutreiben. Minsk ist vor allem eine deutsche Initiative. Der letzte Gipfel war vor über einem Jahr in Berlin, die Außenminister trafen sich danach auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar. Diplomaten aller vier Länder trafen sich zuletzt im September. Irgendwann droht der Prozess einzuschlafen – und andere Länder könnten anstelle Berlins die Regie in diesem für Europa gefährlichen Konflikt übernehmen.
 
Beispiel Nahmittelost: Außenminister Sigmar Gabriel sprach Mitte November frei von der Leber weg über das "Abenteurertum" in der Region. Das ist an sich nicht falsch, doch leider hörte es sich so an, als sei nur Saudi-Arabien das Problem. In Riad führte das zu hysterischem Protest. Seither bemüht sich das Auswärtige Amt zu sagen, es seien alle gemeint gewesen. Zu spät. Deutschland ist derzeit kein wichtiger Spieler für Saudis und andere Golfstaaten, aber auch nicht für den Iran. Lang her scheinen die Zeiten, als Außenminister Steinmeier von Teheran nach Riad flog und zwischen den dauerbeleidigten Rivalen am Golf vermittelte – es war 2015 und 2016! Die Berliner können derzeit noch nicht mal den saudischen Botschafter in Berlin ansprechen. Den hat Riad nämlich abgezogen.
 
Beispiel Vereinte Nationen: Deutschland bewirbt sich erneut um einen Sicherheitsratssitz, für die Jahre 2019 und 2020. Das ist ein wichtiger Ort, um in Weltkrisen, die Europa bedrohen, mitreden zu können. Diese Bewerbung läuft nicht per Hochglanzmappe mit Foto, sondern bedarf des intensiven Klinkenputzens in vielen Ländern, auf deren Stimme Berlin angewiesen ist. Manches davon können die Diplomaten übernehmen, aber in einigen Fällen helfen auch Besuche des Außenministers oder der Kanzlerin, die nun schon Monate anderes zu tun hat. Überdies steht der deutsche UN-Botschafter Christoph Heusgen gerade leider in der Kritik, weil er sich etwas zu drängend für einen guten Job seiner Frau bei den UN in New York eingesetzt hat. Manchmal kommt irgendwie alles zusammen.
 
Eine lange Nabelschau in Berlin wäre gefährlich. Die Währungskrise kann ohne Reform der Eurozone bald wiederkommen. Die besetzten Gebiete der Ukraine bleiben ein Pulverfass. Wer Flüchtlingsursachen bekämpfen will, muss im Nahen Osten und in Afrika präsent sein. Vor zwei Jahren brach der syrische Krieg in die heile deutsche Welt ein, auch weil Europa die Folgen völlig unterschätzt hatte. Seitdem ist es bei uns nicht mehr so heil.
 
Wenn Deutschland sich von der Welt abmeldet, dann kommt die Welt eben zu uns.
   
 
   
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Fünf vor 8:00 ist die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE. An jedem Werktag kommentieren abwechselnd unter anderem Michael Thumann, Theo Sommer, Alice Bota, Matthias Naß, Martin Klingst und Jochen Bittner.