Fünf vor 8:00: Rakka sollte uns eine Mahnung sein - Die Morgenkolumne heute von Martin Klingst

 
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FÜNF VOR 8:00
27.11.2017
 
 
 
   
 
Rakka sollte uns eine Mahnung sein
 
In den Jamaika-Sondierungen stellten FDP und CSU die Ordnung über die Humanität. Aber eine ausnahmslose Aussetzung des Familiennachzugs darf es nicht geben.
VON MARTIN KLINGST
 
   
 
 
   
 
   
Vor allem das Thema Flucht und Migration trennte bis zum Schluss die vier potenziellen Jamaika-Partner. Darüber kann auch die angeblich einvernehmlich getroffene Feststellung nicht hinwegtäuschen, dass sich eine gute Flüchtlings- und Einwanderungspolitik durch zweierlei auszeichne: Ordnung und Humanität.
 
Diese Floskel, im Grunde eine Binse, verschleiert den Gegensatz. Denn bei einigen Sondierern wie CSU und FDP hatte die Ordnung klaren Vorrang vor der Humanität. Bei den Grünen war es eher umgekehrt. Am Ende hatte man sich vor allem bei der Frage des Familiennachzugs derart verhakt, dass ein Ausweg kaum noch möglich schien. Jeder schiebt seither die Schuld fürs Scheitern auf den anderen, was der beste Beweis dafür ist, dass es wohl an allen gelegen hat.
 
Und auch wenn sich die Grünen gerade auf ihrem Parteitag dafür feiern ließen, bis zum Schluss zugleich kompromissbereit und standhaft gewesen zu sein: Es ist nicht ganz falsch, dass die FDP mit ihrem Austritt aus den Sondierungen die Grünen vor einem riesigen Problem bewahrt hat. Denn Cem Özdemir, Katrin Göring-Eckardt & Co hätten ihrer Partei gerade beim Thema Flüchtlinge ein für Grüne nur schwer verdauliches Einigungspapier vorlegen müssen.
 
Aber das ist Vergangenheit, das strittige Thema Familiennachzug bleibt. Jetzt sind andere potenzielle politische Partner gefragt, eine Lösung zu finden.
 
Natürlich muss es Ordnung geben. Das Recht auf Asyl sowie der Anspruch auf Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention lassen sich dauerhaft nur aufrechterhalten und durchsetzen, wenn erstens die Anerkennungsverfahren zügig durchgeführt werden. Und wenn zweitens all jene Menschen, die keinen Schutz erhalten, ihr vorübergehendes Aufnahmeland ebenso zügig wieder verlassen müssen – und können.
 
Das funktioniert leider immer noch nicht. Dafür gibt es viele Gründe, rechtliche wie praktische. Einige dieser Gründe sind extrem ärgerlich, wie etwa die gezielte Zerstörung von Ausweisdokumenten oder die inflationäre Ausstellung ärztlicher Atteste oder die Weigerung etlicher Herkunftsländer, ihre Staatsangehörigen zurückzunehmen. Die nächste Regierung wird hier noch einmal gewaltig Gas geben, Druck ausüben und weiter an vielen komplizierten Stellschrauben drehen müssen.
 
Und dennoch lässt sich nur schwer nachvollziehen, warum beim Jamaika-Streit ausgerechnet beim Thema Familiennachzug der Ordnungswille derart über das Humanitätsgebot triumphierte. An den schieren Zahlen kann es nicht gelegen haben. Alle, die seriöse Berechnungen darüber führen, sprechen über die Jahre von maximal 100.000 bis 150.000 zusätzlichen Menschen.
 
Worum geht es? Darum, dass anerkannten Flüchtlingen – also auch jenen mit bloß subsidiärem Schutz – die Chance eingeräumt wird, ihre Kernfamilie nachzuholen. Damit sind Ehepartner gemeint, die minderjährigen Kinder oder die Eltern von allein geflohenen Minderjährigen.
 
Man glaubte, der Krieg werde 2018 beendet sein
 
Eine Chance auf Familiennachzug zu gewähren, heißt mitnichten, sofort allen diese Möglichkeit zu bieten. Der Nachzug ließe sich zeitlich strecken und auch an bestimmte Bedingungen knüpfen, etwa an die persönliche Dringlichkeit, die seelische Not, ebenso an die Integrationsbereitschaft und die Aufnahmefähigkeit der Kommunen.
 
Es wäre aber unmenschlich und aus Integrationsgründen falsch, den Nachzug für subsidiär Geschützte wie derzeit weiter auszusetzen. Jedenfalls ausnahmslos. Denn das Moratorium für den Familiennachzug ging von einer falschen Voraussetzung aus: Im Frühjahr 2016, als Kriegsflüchtlinge aus Syrien und dem Irak weitgehend nur noch einen auf ein bis zwei Jahre begrenzten subsidiären Schutz erhielten und der Familiennachzug für sie ausgesetzt wurde, ging man davon aus, dass der Krieg 2018 beendet sein würde.
 
Das war eine fatale Fehleinschätzung. Den Jamaika-Verhandlern hätte man in einer ihrer vielen Sondierungspausen den Dokumentarfilm City of Ghosts von Matthew Heineman vorspielen sollen. Er hätte sie eines Besseren belehrt. Der Streifen kommt jetzt in die Kinos und schildert eindrucksvoll das bedrückende Leiden der Menschen in der syrischen Stadt Rakka unter der Terrorherrschaft des "Islamischen Staats" (IS).
 
Rakka ist nicht befreit
 
Unter dem Motto Raqqa is Being Slaughtered Silently, Rakka wird stillschweigend geschlachtet, haben einige mutige, geradezu todesmutige Bewohner mit ihren Smartphonekameras die täglichen Gräuel, die Exekutionen, aber ebenso den Hunger und das Elend in Rakka festgehalten. Sie wollten gegen das Stillschweigen und das Vergessen ankämpfen und schickten ihre Bilder zur Weiterverbreitung an ihre ins Ausland geflohenen Freunde.
 
Mit diesen Aufzeichnungen widerlegen sie die vom IS ebenfalls per Videos um die Welt versendete Botschaft, dass die Menschen im sogenannten Islamischen Staat zufrieden und fröhlich leben, weil sie dort keine Not erführen, genug zu essen und zu trinken bekämen, Arbeit hätten und ärztlich versorgt würden.
 
Der Film City of Ghosts zeigt aber weit mehr: Er ist ebenso ein Dokument über den Schmerz der Geflohenen, die täglich sehnsüchtig auf Nachrichten aus der Heimat warten. Die voller Angst um ihre zurückgebliebenen Freunde und Familien sind und in tiefe Trauer versinken, wenn sie von der Ermordung ihrer Verwandten und Kollegen erfahren.
 
Und der Film belegt außerdem, dass mit dem Ende des IS Not und Terror keineswegs gewichen sind. Zwar ist der IS aus Rakka vertrieben, doch die siegreichen Assad-Truppen töten weiter. Rakka ist nicht befreit, ebenso wenig wie das restliche Syrien. Die anonymen Zeitzeugen von Raqqa is Being Slaughtered Silently berichten über den sich fortsetzenden Horror. Und damit bleibt auch die Angst der Geflohenen um ihre daheim gebliebenen Familien.
 
Die meisten Jamaika-Sondierer schien es wenig zu kümmern, dass viele Bürgerkriegsflüchtlinge extrem unter der Trennung von ihren Familien leiden, gleich wo sie sich im Augenblick befinden, ob im Krieg oder irgendwo in einem Flüchtlingslager. Doch die Familie gibt Halt, sie bietet Seelentrost – und erleichtert das Ankommen in der Fremde.
 
Derweil geht in Rakka und an anderen Orten das Schlachten stillschweigend weiter. Im März 2018 läuft das Moratorium für den Familiennachzug von subsidiär geschützten Flüchtlingen aus. Gleich wer in Berlin regiert: eine weitere ausnahmslose Aussetzung darf es nicht geben.
   
 
   
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Fünf vor 8:00 ist die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE. An jedem Werktag kommentieren abwechselnd unter anderem Michael Thumann, Theo Sommer, Alice Bota, Matthias Naß, Martin Klingst und Jochen Bittner.