Russland ist ein Land mit einer unvorhersagbaren Vergangenheit, lautet ein vielzitiertes Bonmot. Manchmal werden Fakten neu erfunden, meistens wird die Interpretation des Geschehenen ständiger Revision unterzogen. Dabei gilt: Wer regiert, der revidiert.
Diese Unvorhersagbarkeit durfte kürzlich der Schüler Nikolaj Desdiejatnitschenko aus dem westsibirischen Nowo Urengoj erleben. Er nahm an einem Städtepartnerschaftsprojekt mit Kassel teil, was ihn sogar kurz an das Rednerpult im Bundestag führte. Er hatte sich mit den Leiden der Soldaten im Zweiten Weltkrieg beschäftigt, seine deutsche Partnerin sprach über die russischen Soldaten, er über die deutschen. In der russischen Erde lägen "schuldlos zu Tode gekommene Menschen", sagte Desjatnitschenko, "von denen viele friedlich leben und nicht kämpfen wollten." Nun liegen da auch sehr viel Wehrmachtssoldaten, die nicht so friedlich waren und furchtbare Verbrechen begingen, aber Desjatnitschenko ging es offenbar vor allem darum, das Leiden der anderen zu zeigen.
Russische Medien verherrlichen den Zweiten Weltkrieg Dafür wurde er in den russischen sozialen Medien regelrecht hingerichtet. "Verräter" war noch eine harmlose Beschimpfung, "Nazi" und "Stiefellecker der Faschisten" schallte es im Netz und in den Medien. So schlimm, dass sich sogar der Präsidentensprecher bemüßigt fühlte, von einer "überspannten Hetzjagd" zu sprechen.
Diese Kampagne zeigt, wohin falscher Gebrauch der Geschichte oder gar eine Überdosis derselben führt. Die
Konferenz "Russland in Europa" der Körber-Stiftung in Hamburg hat das Problem im November noch einmal beleuchtet. Russische Medien und staatliche Agenturen in Russland verherrlichen den Zweiten Weltkrieg. Filme glorifizieren erfundene Brigaden, die nie gekämpft haben. Diese Geschichtsklitterung ist ein sowjetisches Erbe. Die
Gegenwart wird durch die Geschichte definiert: "Wir sind, was wir waren." Deshalb aber kann Geschichte, wie einst Nikita Chruschtschow maliziös bemerkte, nicht einfach der freien Diskussion von Historikern überlassen werden – oder womöglich von Schülern. "Historiker sind gefährliche Leute", befand der Erste Sekretär der Kommunistischen Partei Ende der 1950er Jahre. "Sie müssen unter Aufsicht stehen."
Heute sorgt der russische Kulturminister Wladimir Medinskij, dessen Dissertation gerade wegen Unregelmäßigkeiten überprüft wird, für die Kontrolle der Historiker. Eines seiner Bücher will Mythen der russischen Geschichte aufklären, schafft aber fleißig neue. Medinskij machte sich einen Ruf als Mitglied der berüchtigten Kommission "zur Verhinderung der Fälschung der Geschichte zum Schaden der Interessen Russlands". Mit dem Namen ist eigentlich schon alles gesagt.
Aus 170 Jahren russischer Krim wird eine Ewigkeit Universitäten stehen unter Druck, in St. Petersburg verliert die angesehene Europäische Universität mit einer hervorragenden Geschichtsfakultät Lizenz und Räumlichkeiten. In Moskau wird der angesehene Historiker und Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften, Jurij Piwowarow, von den Ermittlungsbehörden verfolgt. Angeblich, weil er für einen Brand in seinem Institut verantwortlich sei, tatsächlich, weil er sich kritisch über die Geschichtspolitik der Regierung äußerte.
Gerade
an der Krim lässt sich zeigen, wie Geschichte herbeigebogen wird. Ein Freilichtmuseum in der Stadt Chersones auf der Krim zeichnet gerade nach, wie ausgerechnet auf der erst Ende des 18. Jahrhunderts dem Romanow-Reich angeschlossenen Krim "Russland seinen Ursprung" gehabt haben soll. So werden aus 170 Jahren russischer Krim eine Ewigkeit.
Für russische Geschichtsklitterer ist die Vergangenheit wie ein Baumarkt. Man geht rein, holt sich, was man gerade braucht und lässt das Unbrauchbare liegen, zimmert sich daraus seine Hütte. Die kann man aber auch stets umbauen.
Nun steht Russland damit nicht allein. In mehreren Staaten Europas wird die Geschichte verschönert. Siehe Polen, siehe auch die Ukraine, die in einem bissigen Geschichtsstreit verfangen sind. Da werden gern nur die heroischen Seiten gezeigt, das eigene Leiden, weniger das der anderen. Zur schwierigen polnisch-ukrainischen Geschichte lohnt sich das neue Buch von Lutz Kleveman über
Lemberg, die vergessene Mitte Europas (Berlin 2017). Er kratzt an der wunderschönen Oberfläche
Lembergs, führt uns in die widersprüchliche, blutige Vergangenheit dieser polnisch-ukrainisch-jüdisch-habsburgischen Stadt.
Putin ist ein Meister der Ambivalenz Doch für derlei nachdenkliche Betrachtungen ist in Osteuropa, vor allem in Russland, immer weniger Platz. Geschichte dient immer weniger der Aufklärung und Warnung, sondern wird als Waffe benutzt. Das zeigen die
Angriffe gegen den Film Matilda über den letzten Zaren und seine Geliebte und die Attacken gegen den Schüler Desjatnitschenko. Der Staat fördert das, indem er Geschichte ausschlachtet und den Radikalen Raum lässt für nationalistische Deutung.
Wladimir Putin ist ein Meister ambivalenter Geschichtsdeutung. Putin macht gern beides, er weiht ein Denkmal für Opfer des Stalinismus ein, sagt aber, dass Stalin Russland industrialisiert und gerettet habe. Er lobt den
Molotow-Ribbentrop-Pakt, doch ist gegen
Stalins Gulag. Er ist für die Sowjetunion als großes Reich, aber gegen Lenins Sozialismus. Mit dieser Ambivalenz hält er sich jede künftige Geschichtsrevision offen und zeigt zugleich, dass er keine Interpretation ausschließt – ohne selbst Fingerabdrücke zu hinterlassen. Das nutzen Nationalisten aus für ihren Russland- und Stalin-Kult im ganzen Land. Dieser Verherrlichung ist nun der Schüler Desjatnitschenko zum Opfer gefallen.