Fünf vor 8:00: Ein revolutionäres Dokument - Die Morgenkolumne heute von Martin Klingst

 
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FÜNF VOR 8:00
10.12.2018
 
 
 
   
 
Ein revolutionäres Dokument
 
Vor 70 Jahren wurde die Erklärung der Menschenrechte verabschiedet. Aus ihr folgte das Recht auf Asyl. Doch noch ist es lebensgefährlich, es in Anspruch zu nehmen.
VON MARTIN KLINGST
 
   
 
 
   
 
   

Vor 70 Jahren, am 10. Dezember 1948, verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen ein bahnbrechendes, geradezu revolutionäres Dokument: die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.
 
Nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs, den monströsen Verbrechen Nazideutschlands und den ersten Enthüllungen der Grausamkeiten Josef Stalins schrieben die damals 56 Staaten der Vereinten Nationen in Artikel 1: "Alle Menschen sind frei geboren und gleich an Würde und Rechten. Alle haben Vernunft und Gewissen und sollten untereinander im Sinn der Brüderlichkeit handeln." 
 
Obwohl rechtlich nicht verbindlich, entwickelte die Erklärung eine große katalysatorische Wirkung. Ihr Bekenntnis zu den unveräußerlichen Menschenrechten wurde zum Vorbild für zahlreiche rechtsbindende Dokumente, wie etwa die Europäische Menschenrechtskonvention oder die Genfer Flüchtlingskonvention. Der 10. Dezember ist seither auch der Tag der Menschenrechte, an ihm wird auch jedes Jahr im Rathaus zu Oslo der Friedensnobelpreis überreicht.

Vor drei Jahren, als über eine Million Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten Zuflucht in Europa suchten, wurde dieser Preis vier tunesischen Organisationen verliehen. Der Verbund aus Gewerkschaft, Arbeitgeberverband, Anwaltskammer und Menschenrechtsliga hatte sich
 für den demokratischen Wandel eingesetzt und geholfen, einen Bürgerkrieg in Tunesien zu vermeiden.
 
Menschen werden auf der Flucht getötet, vergewaltigt, versklavt
 
"Das resolute Eingreifen des Quartetts", begründete damals die Vorsitzende der Friedensnobelpreis-Jury die Entscheidung, "hat dazu beigetragen, die Spirale der Gewalt zu stoppen." Hätten die Menschen in allen Ländern so gehandelt und auch dort die Grundlagen für Dialog, Toleranz, Demokratie und Recht geschaffen, sagte Kaci Kullmann Five, dann "wären wesentlich weniger Menschen zur Flucht gezwungen". Man könnte getrost hinzufügen: Dann wären in den vergangenen Jahren auch wesentlich weniger Menschen auf ihrer Flucht vergewaltigt, versklavt und getötet worden.
 
Nach Schätzungen des Europäischen Parlaments starben seit dem Jahr 2000 rund 30.000 Flüchtlinge und Migranten auf dem Weg aus ihrer Heimat in die EU. Allein in den ersten elf Monaten dieses Jahres ertranken laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR und der Internationalen Organisation IOM mehr als 2.100 Menschen im Zentralen Mittelmeer.
 
Das humanitäre Visum könnte viele Leben retten
 
Über viele Monate war die private Seenotrettung fast völlig zum Erliegen gekommen. Denn viele europäische Staaten, allen voran Italien, versuchten die Rettungsorganisationen mit Drohungen, mit dem Entzug von Flaggen, mit der Sperrung von Häfen, mit Strafverfahren und anderen gemeinen juristischen Tricks den Garaus zu machen.
 
Es wäre wunderbar, die Seenotretter würden nicht mehr gebraucht. Doch den meisten Menschen, die vor Krieg und Verfolgung in Afrika und dem Mittleren Osten fliehen, bleibt keine andere Möglichkeit als die gefährliche Überfahrt über das Mittelmeer. Denn ihren Schutzanspruch können sie in der Regel erst geltend machen, wenn sie europäisches Hoheitsgebiet betreten haben.
 
Laut dem Europäischen Parlament kommen rund 90 Prozent all jener Menschen, die in der EU Asyl oder einen anderen Schutzstatus erhalten, zunächst als "irreguläre Einwanderer" nach Europa. Für viele Flüchtlinge wäre es darum nicht nur hilfreich, sondern überlebenswichtig, wenn sie einen Antrag auf Schutz schon außerhalb der EU stellen könnten, etwa in einer Botschaft oder einem Konsulat.
 
Einheitliche Regeln für Flüchtlinge und Migranten
 
Bislang fehlen dafür einheitliche Regeln. Doch in dieser Woche will das Europäische Parlament über die Einführung eines neuen Instruments abstimmen: das humanitäre Visum. Sollte es eines Tages Gesetz werden, könnte ein EU-Staat einem für schutzbedürftig erachteten Menschen schon jenseits des Mittelmeers ein Visum erteilen, mit dessen Hilfe der Flüchtling direkt, ungefährdet und erlaubterweise in die EU einreisen könnte, um hier ein Asylverfahren zu durchlaufen. Ein weiterer Vorteil: Schon außerhalb der EU fände eine kurze Vorprüfung der Fluchtgründe sowie ein genauer Sicherheitscheck statt.
 
Natürlich ist das humanitäre Visum kein Allheilmittel. Wer nicht Flüchtling, sondern Migrant ist, wird sich weiterhin auf eigene Faust auf den Weg machen, solange es zum Beispiel kein Einwanderungsgesetz gibt, das auch arbeitssuchenden Menschen eine legale Einreise nach Europa ermöglicht. Es gibt nicht die eine, alle Schwierigkeiten aus der Welt schaffende Lösung. Viele ganz unterschiedliche Maßnahmen sind erforderlich, um die Flüchtlings- und Migrationskrise anzupacken und wenigstens ein klein bisschen einzudämmen.
 
"Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen", steht seit dem 10. Dezember 1948 in Artikel 14 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Daraus ist längst ein rechtlich verbindliches Kernmenschenrecht geworden. Dass sich dieses Recht jedoch oft nur unter äußerster Lebensgefahr in Anspruch nehmen lässt, ist ein unhaltbarer Zustand. Ein humanitäres Visum könnte Leben retten.

 


 
WEITERFÜHRENDE LINKS

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THE GUARDIAN Human rights for the 21st century: by Margaret Atwood, Reni Eddo-Lodge, Dave Eggers and more
SÜDDEUTSCHE ZEITUNG Exodus der Menschlichkeit


 
   
 
   
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Fünf vor 8:00 ist die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE. An jedem Werktag kommentieren abwechselnd unter anderem Michael Thumann, Theo Sommer, Alice Bota, Matthias Naß, Martin Klingst und Jochen Bittner.