Die Zeitbombe des Brexits tickt weiter. Niemand weiß, wann sie explodiert, ob sie ein bloßer Rohrkrepierer wird oder ob sie überhaupt zündet. In Großbritannien herrschen Chaos und Konfusion. Das Land ist zutiefst gespalten und die Zerrissenheit der konservativen Partei macht das Land praktisch regierungsunfähig. Die Premierministerin Theresa May kämpft einen ziemlich aussichtslosen Kampf.
Zweieinhalb Jahre lang predigte sie, ursprünglich eine Austrittsskeptikerin: "Brexit heißt Brexit." Doch der Scheidungsvertrag, den sie mit der EU aushandelte (Merkel: "ein diplomatisches Kunststück"), findet im britischen Parlament keine Mehrheit. Ob es May gelingt, vor dem Austrittstermin, dem 29. März 2019, die Zustimmung des Unterhauses zu erlangen, steht sehr dahin.
Und was dann? Der Journalist Klaus-Dieter Frankenberger hat die Fragen, die uns allen auf den Lippen liegen, eindringlich formuliert: "Wohin wird das noch führen? Wann wird es enden? Und zwar endlich enden? Harter Brexit, weicher Brexit, Interimsphase (während der so gut wie alles beim alten bleibt), Verlängerung der Interimsphase (bis zur Aushandlung eines Freihandelsabkommens 2020 oder 2022), Aufschub des Austritts, Neuwahlen – die britische Politik mutet den Bürgern im Vereinigten Königreich eine Menge zu. Und den Parteien auf dem Kontinent auch."
Die Zweifel reichen weit zurück
Das gegenwärtige Londoner Chaos ist Ausdruck der Zwiespältigkeit, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die britische Haltung zu Europa kennzeichnet. Das begann schon mit Winston Churchill, der 1946 in Zürich forderte: "Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa schaffen." Für Großbritannien sah er jedoch keinen Platz in diesem Europa, nur dessen "Freund und Förderer" sollte es sein.
Clement Attlee sagte Nein zur Montanunion. Harold Macmillan wollte der werdenden Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) durch die europäische Freihandelszone Efta das Wasser abgraben. Auch nach ihrem Beitritt im Jahre 1973, zehn Jahre, nachdem de Gaulle ihnen die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte, blieben die Briten voller Vorbehalte. Zweifel und Zwist bestimmten ihre Haltung.
Harold Wilson drohte schon zwei Jahre nach dem Beitritt mit Neuverhandlung und veranstaltete 1975 eine erste Volksabstimmung über Englands Verbleib; 67 Prozent stimmten dafür. Margaret Thatcher ("I want my money back!") presste der EU ständig neue Sonderrabatte ab. Auch Tony Blair und David Cameron setzten eine Reihe von egoistischen Opt-outs durch.
Weder bei Schengen noch beim Euro machte England mit. Cameron setzte dann aus parteitaktischen Gründen das fatale Referendum an, in dem sich 51,9 Prozent gegen, 48,1 Prozent für den Verbleib in der EU entschieden.
Verstärkter Frust
Helmut Schmidt war früh ein Befürworter des englischen Beitritts. Aber im Lauf der Zeit schwand seine Begeisterung, verstärkte sich sein Frust. Ernüchtert sagte er seinem Freund Lee Kuan Yew, dem Staatsgründer Singapurs, vor einigen Jahren: "Die Briten werden nicht wirklich Europäer werden."
Mir ging es ähnlich. In einem als Brief aufgemachten Leitartikel appellierte ich 1973 an den EWG-Skeptiker Tim Raison, einen Studienfreund aus Harvard, der damals ein junger Tory-Abgeordneter war: "Lieber Tim! Ich beschwöre Sie: Werfen Sie Ihr Herz über die Hürde!" (Er tat es und stimmte für den Beitritt.)
Doch in der Folgezeit bin ich mehrmals an den Punkt gekommen, an dem ich an der Widerborstigkeit der Briten, ihren ewigen Nachforderungen, Ausnahmebegehren und Blockadeaktionen verzweifelte und ihnen den Teufel an den Hals wünschte. Doch jetzt, wo sie um den Austritt aus der Europäischen Union ringen und ihn womöglich, getragen von einer hauchdünnen Referendumsmehrheit, auch tatsächlich vollziehen, bin ich bekümmert, besorgt, entsetzt.
Ein Ja wie ein Nein wäre keine Luftbuchung mehr
Der EU-Austritt des Vereinigten Königreichs ist mehr als eine Scheidung. Er ist eine Amputation, die chirurgische Trennung zweier vielfältig zusammengewachsener Wesen. Wir werden sie überleben, aber es werden beide danach vermindert und behindert sein, die Briten wie die übrigen 27 Europäer.
Ich gebe zu: Wenn ich lese, dass mittlerweile wohl 40 Prozent der Briten für ein weiteres Referendum sind, keimt die leise Hoffnung in mir auf, dass sie sich doch umbesinnen. Sie sind vor der Volksabstimmung im Juni 2016 von den leavers nach Strich und Faden belogen worden.
Sie hatten damals keine Vorstellung davon, welche drastischen Folgen der Austritt in seiner sämtliche Lebensbereiche belastenden Komplexität haben würde. Jetzt liegt ein 585 Seiten umfassender Austrittsvertrag auf dem Tisch, zu dem sich die Wähler konkret äußern können; ein Ja wie ein Nein wäre keine Luftbuchung mehr.
Das Volk darf seine Meinung ändern
Die Gegner eines neuerlichen Referendums argumentieren, es sei schlechthin undemokratisch; eine einmal gefällte Entscheidung könne nicht zurückgenommen werden. Doch darf man dem Volk wirklich das Recht absprechen, im Lichte neuer Umstände seine Meinung zu ändern?
Das Referendum von 2016 hat das Referendum von 1975 aufgehoben. Logischerweise kann ein weiteres Referendum das von 2016 außer Kraft setzen. Das Volk hat grundsätzlich das letzte Wort, in Wahlen wie in Volksabstimmungen. Man darf ihm das Wort nicht verbieten.
Deswegen tritt vor allem der frühere Premier Tony Blair für ein abermaliges people's vote ein. Viele Millionen Wähler unterstützen ihn; anderthalb Millionen haben eine Petition in seinem Sinne unterschrieben. Man muss ihm aus ganzem europäischen Herzen Glück und Gelingen wünschen.
Aber ich fange auch an, mich auf Schlimmeres einzustellen. Gedanklich müssen wir uns vielleicht doch auf ein Großbritannien einrichten, das der Vorstellung entspricht, die Churchill im Jahre 1930 skizziert hat: "with Europe but not of it, linked but not comprised" – verbunden, aber nicht eingebunden.