Fünf vor 8:00: Ein außenpolitisches Desaster für Deutschland - Die Morgenkolumne heute von Michael Thumann

 
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FÜNF VOR 8:00
07.12.2018
 
 
 
   
 
Ein außenpolitisches Desaster für Deutschland
 
Die Pipeline Nord Stream 2 zu stoppen, wäre ein sehr deutliches Signal an Russland. Aber geht das überhaupt noch? Der Ukraine würde es jedenfalls nichts nützen.
VON MICHAEL THUMANN
 
   
 
 
   
 
   

Sollte Deutschland die Pipeline Nord Stream 2 stoppen? Das fordern immer mehr deutsche  Politiker. Die Grünen tun es schon lange. Zuletzt mehrten sich die Stimmen aus der CDU. Die Empörung über den erneuten Bruch des Völkerrechts durch russische Streitkräfte ist groß. Seitdem sie ukrainische Schiffe in der Meerenge von Kertsch beschossen und ukrainische Seeleute und Marinesoldaten festgenommen haben, fragen viele, ob und wie man Russland antworten kann.
 
Nord Stream 2 zu stoppen, wäre ein sehr deutliches Signal. Die Pipeline quer durch die Ostsee von Petersburg nach Greifswald ist ein Lieblingsprojekt von Wladimir Putin. Sie soll nicht weniger als 55 Milliarden Kubikmeter Gas im Jahr transportieren. Das ist etwas mehr als die Hälfte dessen, was Russland heute durch die Ukraine nach Europa schickt. Nord Stream 2 kann also einen erheblichen Teil des Erdgases liefern, das der Ukraine bisher Gebühren in Milliardenhöhe einbringt.
 
Kein Kubikmeter Gas bisher, aber sehr viel Gegenwind
 
Heute wünscht sich so mancher in der Berliner Koalition, man hätte der russischen Röhre niemals zugestimmt. Sie hat Deutschland noch keinen Kubikmeter Gas, aber sehr viel Gegenwind und Kritik gebracht. Polen, die EU-Kommission, die baltischen Staaten und die Ukraine dreschen bei jeder Gelegenheit auf Nord Stream 2 ein. Die USA bereiten Sanktionen gegen die Pipeline und gegen deutsche Unternehmen vor. Sie verhalten sich feindselig, trotzdem steht Berlin als Störer da. Die Bundesregierung muss sich vorwerfen lassen, mit Putin zu kungeln, die Ukraine Russlands Willkür auszuliefern und eine einheitliche EU-Energiepolitik zu verhindern. Nord Stream 2 ist, außenpolitisch betrachtet, ein Desaster für Deutschland.

Doch bevor man Stopp ruft, sollte man prüfen, ob das eigentlich noch geht. Gazprom hat mit dem Bau begonnen und sagt, ein Teil der Röhren sei schon auf dem Ostseeboden verlegt. Grünen-Abgeordnete wie Reinhard Bütikofer drängen, Berlin solle einfach die röhrenkritische EU-Kommission machen lassen und so die Pipeline verhindern. Klingt simpel, ist aber schwer. Die Bundesregierung hat jahrelang argumentiert, dass die EU-Kommission nicht zuständig sei und deshalb auch nichts verbieten könne. Ein Rechtsgutachten des EU-Rats unterstützt diese Sicht der Dinge. Alle Genehmigungen für Nord Stream 2 sind erteilt, alle Klagen dagegen gescheitert. Würde die Bundesregierung plötzlich Nord Stream 2 stoppen wollen, würde sie nicht nur die eigene Position konterkarieren, sondern hätte womöglich auch mit teuren Regressforderungen zu rechnen.
 
Die Ukraine wird nicht nur durch Nord Stream 2 umgangen
 
Umgekehrt aber könnten amerikanische Sanktionen gegen deutsche Unternehmen auch viel Schaden anrichten. Das Versagen der Berliner Pipeline-Diplomaten liegt darin, dass sich viele Europäer auf Nord Stream 2 eingeschossen haben, während andere Staaten still und zielstrebig ihre Röhrenträume verwirklichen.
 
Zum Beispiel Polen: Die Warschauer Regierung protestiert besonders laut gegen Nord Stream 2, treibt aber hinter der Geräuschkulisse eigene Projekte voran. Gerade wurde die Baltic Pipe beschlossen, die norwegisches Gas über Dänemark nach Polen bringen soll – an Deutschland vorbei. Warschau hat da Erfahrung. Es kassiert seit über zehn Jahren von Russland Transitgebühren für eine große Gaspipeline, die auch die Ukraine umgeht. Weitere Röhren nach Südosteuropa sind in Planung. Polen will selbst ein Energieverteiler-Land werden.
 
Zum Beispiel Türkei: Schon seit den Neunzigerjahren liefert die Blue-Stream-Pipeline russisches Gas nach Anatolien. Nun stellen die Russen eine neue Doppelröhre fertig, die von Russland durch das Schwarze Meer an die türkisch-bulgarische Grenze führt. Turk Stream hat zwei Drittel der Kapazität von Nord Stream 2 und soll den europäischen Markt beliefern. Unter Umgehung von wem? Richtig, der Ukraine. Nur darüber redet niemand. Präsident Erdoğan will sein Land zur Drehscheibe machen und hat den Ausbau der Infrastruktur im Schwarzen Meer angekündigt. 
 
Ein Stopp von Nord Steam 2 wird der Ukraine wenig nützen
 
Die Ukraine wird also nicht nur durch Nord Stream 2 umgangen. Russland baut seit Jahren an Alternativen zur Ukraine, die längst kein Gas mehr von Russland kauft, aber weiter Transitgebühren für russisches Gas nach Europa kassieren möchte.
 
Um der Ukraine diese Ausnahmestellung zu erhalten, wird ein Stopp von Nord Stream 2 wenig nützen. Denn dann wird Gazprom eben weitere Röhren im Schwarzen Meer bauen. Oder mehr Flüssiggas-Terminals. Oder neue Partner in Europa finden. Putin wird die heutige Position der Ukraine als Hauptroute nach Europa auf alle Fälle ändern. Will die Ukraine weiter ein wichtiges Exportland für russisches Gas sein, muss sie sich mit Moskau einigen. Was Kiew braucht, sind Minsker Verhandlungen mit der EU und Russland über den Gas-Export.
 
Die Bundesregierung hat dafür in diesem Frühling einen Vorschlag gemacht. Der kommt zwar drei Jahre zu spät, ist aber trotzdem nicht schlecht. Ein Konsortium westlicher Firmen modernisiert die alten Stränge der ukrainischen Pipelines mit Krediten aus Europa. Kiew gelobt, niemals aus politischen Gründen den Gasfluss zu unterbrechen. Moskau garantiert, eine Mindestmenge an Gas durch die Ukraine zu liefern. Soweit der deutsche Vorschlag. Zusätzlich sollte man der Ukraine noch zusichern, dass entweder die Nord-Stream-2-Gesellschaft oder die Deutschen Ausfälle von Transiteinnahmen ersetzen, indem sie in ukrainische Infrastruktur investieren.  
 
Warum sich Putin daran halten könnte? Ganz einfach: Weil es ihn wenig kostet und weil möglichst viele Pipelines gut für Gazprom sind. Genauso wie für Europa, das seit Jahren in viele Röhren und Gasterminals investiert – und deshalb von keinem einzelnen Gasproduzenten mehr abhängig ist.

 


 
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FINANCIAL TIMES Nord Stream 2 is a trap of Germany’s own making
FAZ Nordstream schadet Europa
   
 
   
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Fünf vor 8:00 ist die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE. An jedem Werktag kommentieren abwechselnd unter anderem Michael Thumann, Theo Sommer, Alice Bota, Matthias Naß, Martin Klingst und Jochen Bittner.