10 nach 8: Annette Weisser über Boyle Heights

 
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28.12.2018
 
 
 
 
10 nach 8


Morrisseys Lieder sind traurig, das Leben ist traurig
 
In Boyle Heights in Los Angeles treffen sich Hispanics zum Morrissey-Karaokeabend. Kommt man als Weiße da rein? Und wie steht es um die Gentrifizierung des Viertels?
VON ANNETTE WEISSER, LOS ANGELES

Der Morrissey-Fan Julio in Los Angeles. Aus der Fotoserie "Carnivores and Destructors", 2009 © PYMCA/UIG/Getty Images
 
Der Morrissey-Fan Julio in Los Angeles. Aus der Fotoserie "Carnivores and Destructors", 2009 © PYMCA/UIG/Getty Images
 
 

Ich habe Besuch aus Berlin und überrede ihn, mich nach Boyle Heights im Osten von Los Angeles zu begleiten. Dort gibt es eine Bar, wo einmal im Monat ein Karaokeabend stattfindet, der allein The Smiths und Morrissey gewidmet ist. Ab 21.30 Uhr strömt das aufgekratzte Publikum durch die dicke Holztür, drinnen rote Satintapeten an den Wänden und viel dunkles Holz, der breite, tiefergelegte Tresen wird später als Bühne dienen. Ich bin erst zum zweiten Mal hier, werde aber gleich freundlich begrüßt: Hey, ich kenne dich! Ooops, denke ich, war meine Darbietung letztes Mal so unterirdisch? Die Latte hängt hier ziemlich hoch. Ein Morrissey-Lookalike (ähnlicher Jahrgang, schlank, akkurat frisierte graue Haartolle, weit offenstehendes Oberhemd zu dunkler Anzughose) reicht eine Liste herum, auf der sich schnell diejenigen eintragen, die hier heute gern auftreten möchten.

Der DJ, der zu Beginn des Abends Indiehits aus den 1980ern gespielt hat, zoomt nun ein auf die Musik der Smiths. Grüppchen von Freunden singen sich warm, dramatisches Posen rechts und links. Der vorherrschende Style ist American Blue Collar: Arbeitsstiefel, Holzfällerhemden, Lederjacken, dazu pomadierte, schwarze Haarschöpfe. Vereinzelt spannen sich Fan-T-Shirts aus der fast 40-jährigen Karriere von Morrissey über Frauen- und Männerbrüste. Junge und Ältere, alle Hispanics, außer uns. Die MC des Abends begrüßt das Publikum und stellt die Regeln vor: Geburtstagskinder kommen zuerst dran, dann die Neulinge, dann die Stammgäste. Niemand wird ausgebuht. Die MC hat kurzgeschorene Haare, trägt abgewetzte Jeans, ein verwaschenes "How Soon Is Now?"-T-Shirt und kein Make-up. Sie holt als erstes ihre Schwester auf die Bühne, die heute Geburtstag hat: "She's the pretty one!" Die hübsche Schwester trägt Petticoat und beginnt den Abend mit Sheila Take a Bow. Es ist Ehrensache, dass die Texte auswendig gewusst werden; wer ins Schlingern kommt, hält das Mikro einfach nach unten vor die Münder in der ersten Reihe.

Der Morrissey-Lookalike singt nun I Have Forgiven Jesus in spanischer Übersetzung und mit perfekter Choreografie. Ich frage ihn nach seinem Auftritt, wie viele Songs er übersetzt hat, und er antwortet: "Nur meine Lieblingslieder, so ungefähr 60." Lateinamerikas Liebe zu all things Morrissey – "Moz" – ist längst gut belegt. Es gibt den wunderbaren Dokumentarfilm von William E. Jones Is It Really So Strange? aus dem Jahr 2005 über die Fanszene in East Los Angeles und aus demselben Jahr das Karaoke-Projekt El Mundo No Escuchará des britischen Künstlers Phil Collins, in Bogotá produziert. Im Vorspann zu Is It Really So Strange? spricht Jones darüber, wie überrascht er war, junge Hispanics in Los Angeles zu einer Musik feiern zu sehen, die er selbst einst als schwuler Teenager im Mittleren Westen der USA geliebt hatte. Im Film wird deutlich, wie die Fans – Männer wie Frauen – ihre eigene ambivalente Sexualität auf ihr Idol projizieren und dessen sexuelle Ambivalenz als Spiel- und Rückzugsraum definieren, innerhalb einer heteronormativen hispanischen Gesellschaftsordnung.

"Es sind die Texte", antwortet mein ganz offensichtlich schwuler Tischnachbar auf meine Frage, warum er Morrissey liebt. "Sie sind poetisch und melancholisch, so wie ich." – "Singst du heute Abend?" – "Nein, ich bin zu schüchtern!" Woraufhin der ganze Tisch die Anfangszeilen von Ask anstimmt. Mein Besuch unterhält sich derweil mit einem dicken Fleischhändler, der mit seiner Freundin hier ist. "Mexikanische Volkslieder sind traurig. Morrisseys Lieder sind traurig. Das Leben ist traurig!" Dabei grinst er und nimmt einen großen Schluck aus seiner Ein-Liter-Corona-Flasche. Die Stimmung ist ausgelassen, alles andere als melancholisch. Das kollektive Bekenntnis zum Außenseitertum ("See the life I had, it would turn a good man bad") erzeugt eine Wärme, die uns Außenseiter aus Berlin umstandslos mit einschließt. Niemand hier drin bemüht sich um Coolness.

Ein Typ mit glattrasiertem Kopf und Intellektuellenbrille, den alle im Raum zu kennen scheinen, klettert auf den Tresen. Er hat sich für ein Lied vom Morrissey-Album Strangeways Here We Come entschieden: "A rush and a push and the land that we stand on is ours. It has been before so it shall be again." Klar, denke ich: Kalifornien gehörte bis zum Mexikanisch-Amerikanischen Krieg im 19. Jahrhundert zu Mexiko. Viele Wochen lang dominierten die schrecklichen Bilder von internierten Flüchtlingskindern, die an der Grenze gewaltsam von ihren Eltern getrennt wurden, die internationalen Schlagzeilen dieses Jahres. Aber heute Abend geht es um etwas anderes: "Stop gentrification, save Boyle Heights!" ruft der Sänger unter Beifall ins Publikum.

"I love him, but I hate him"

In Boyle Heights haben sich in den vergangenen fünf Jahren eine Reihe von Galerien und Ausstellungsräumen angesiedelt, angelockt durch die Nähe zur boomenden Downtown und günstigen Preise für Gewerbeeinheiten. Coffeeshops und Boutiquen nach dem Geschmack der weißen Mittelklasse ließen nicht lange auf sich warten. Aber anders als beispielsweise in Echo Park, wo ich seit zehn Jahren wohne und wo der Prozess der Gentrifizierung ohne nennenswerte Gegenwehr über die Bühne ging, gibt es in Boyle Heights heftigen, anhaltenden Widerstand. Die AktivistInnen der "Boyle Heights Alliance Against Artwashing and Displacement" (BHAAAD) stören Veranstaltungen durch Megaphonauftritte, hacken die Websites der Ausstellungsräume und greifen dort auftretende KünstlerInnen zum Teil auf niederträchtige Weise in den Sozialen Medien an. Gab es zu Beginn der Proteste auf Seiten der Kunstwelt noch Sympathie für die Anliegen der BHAAAD und den Wunsch, zu gemeinsamen Lösungen zu finden, haben sich die Fronten mittlerweile verhärtet.  

Von Anfang an stand zudem der Verdacht im Raum, dass der Kampf gegen Gentrifizierung von einigen AkteurInnen missbraucht werde, um persönliche Rechnungen mit dem Galeriesystem zu begleichen. Oder sogar selbst ein (Anti-)Kunstprojekt sei: "Art as Resistance", wie ein Vertreter das Vorgehen von BHAAAD beschreibt. In den Reihen der BHAAAD finden sich eine auffällig große Anzahl KünstlerInnen, viele AbsolventInnen der renommierten MFA-Programme der Stadt. Auch die Gruppe UltraRed mischt mit. Seit dem Sommer haben etliche Ausstellungsräume wieder zugemacht, was von der BHAAAD als Sieg über das kapitalistische System ("The pigs are leaving ...") gefeiert wird. Auf die Frage, warum ausschließlich Kunsträume und nicht zum Beispiel Infrastrukturprojekte angegriffen werden, erklären VertreterInnen der BHAAAD mit bestechender revolutionärer Logik, dass Attacken auf Ausstellungsräume die größte Medienresonanz bei geringstem zu erwartenden Widerstand erzielen. Der Vorschlag seitens einiger GaleristInnen, die knappen Ressourcen lieber zur Durchsetzung mietpreisgebundener Wohnungen einzusetzen, wurde hingegen zurückgewiesen.

Jetzt bin ich dran. Mir ist plötzlich ein bisschen mulmig, weil vor kurzem zwei (weiße) Bekannte von mir des Lokals verwiesen worden sind. White privilege ist eben auch, zu glauben, dass uns, den "guten Weißen", alle Türen offen stehen. Auf dem Weg zum Tresen frage ich den Glatzköpfigen, ob es okay sei, wenn ich jetzt singe. Er guckt streng und fragt mich, seit wann ich Morrissey liebe. Ich sage, seit 35 Jahren, woraufhin er kurz nickt und mir viel Spaß wünscht. Ich bin erleichtert ob seiner Absolution. Kurz vorher habe ich noch meinen Text auf dem Smartphone memoriert und stehe jetzt oben mit dem Mikro in der Hand. Ich sehe in selige Gesichter und bekomme ermunternden Applaus, als die sphärischen Harfenklänge von I Won't Share You aus dem Lautsprecher wabern. Natürlich verhaspele ich mich gleich am Anfang, finde aber wieder hinein bei der rhetorischen Frage: "Or is life just sick and cruel instead?" – "No, no, no, no, no, no, no!", singt mir der ganze Saal empathisch entgegen.

Morrissey ist alles für jeden; keiner möchte ihn mit anderen teilen. Er ist, wie jeder Popstar, eine Projektionsfläche. Für mich war die Platte Strangeways Here we Come der Sound meiner Selbstständigkeit. Es war die Zeit, als ich zu Hause ausgezogen bin. You are the Quarry habe ich nonstop im Auto gehört, als ich nach Los Angeles umsiedelte. Wie habe ich mich gefreut, als Obama gewählt wurde: "But where the president is never black, female or gay, and until that day you’ve got nothing to say to help me believe – In America." Geht doch, dachte ich damals.

Morrisseys Einlassungen zum Brexit, zum regierenden Bürgermeister von London, zu sexuellen Übergriffen, zu Halal-Schlachtungen und anderen Themen haben ihn in jüngster Zeit als Künstler in Verruf gebracht. Konzerte wurden abgesagt, Boykottaufrufe geistern in den sozialen Netzwerken herum. "Morrissey ist eine böse alte Frau", hat ein Bekannter vor einiger Zeit auf Facebook gepostet. Es ist die ewige Frage, ob der Künstler von seiner Kunst zu trennen sei, und die Antwort ist ganz klar: Nein.

Wir gehen gegen zwölf, heiser und glücklich, und auf dem Tresen stellt die MC klar: "I love him, but I hate him. But I love him! You know what I mean." Dann geht die Party weiter.


Annette Weisser ist Künstlerin und pendelt zwischen Los Angeles und Berlin. Sie lehrt seit 2007 im Graduiertenprogramm Freie Kunst am Art Center College of Design, Pasadena. 2015 erschien die Monografie "Make Yourself Available" im Verlag The Green Box. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".


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