Wer nach Anhaltspunkten dafür sucht, ob sich der öffentliche Diskurs in den vergangenen Monaten nach rechts verschoben hat, wird schnell fündig: Von einem "Rassenkrieg gegen das deutsche Volk" ist auf Demonstrationen die Rede, auf Facebook liest man über Flüchtlinge "Weg mit dem Dreck!" und hört im Bundestag von "Burkas, Kopftuchmädchen und alimentierten Messermännern". Dort wird diese Verschiebung am offensichtlichsten, dort sind rechte Positionen normalisiert, die vor ein, zwei Jahren noch deutlichen Widerspruch geerntet hätten. Aber die Verschiebung wirkt viel tiefer. Auch in den Journalismus.
Zu beobachten war das nun in der Nacht zu diesem Montag. In Sankt Augustin bei Bonn fand die Polizei die Leiche einer jungen Frau, die seit Freitag als vermisst galt. "Vermisste 17-Jährige tot in Flüchtlingsunterkunft gefunden", meldet die Nachrichtenagentur dpa um kurz vor ein Uhr nachts.
Viele Nachrichtenredaktionen greifen die Meldung auf, auch ZEIT ONLINE. Warum? Eine Frau ist getötet worden, das ist ein schreckliches Verbrechen. Doch normalerweise reicht das für uns und viele andere überregionale Redaktionen nicht aus, um zu berichten. 2.379 Fälle von Mord und Totschlag hat es im vergangenen Jahr in Deutschland gegeben. Wir berichten nur dann darüber, wenn die Tat gesellschaftliche oder politische Folgen hat, wenn sie also eine Relevanz über den eigentlichen Fall hinaus in sich trägt.
Es ist deshalb richtig, dass zum Beispiel der Fall eines 28-Jährigen, der in der Nacht zuvor in Göttingen von vier Männern so schwer verletzt wurde, dass er starb, keine Nachricht für ein überregionales Onlinemedium war. Und wer nun argumentiert, dass der Tod einer Jugendlichen tragischer sei als der eines Erwachsenen: In der Nacht zum Samstag wurde in Duisburg die Leiche eines Babys gefunden. Auch darüber haben wir nicht berichtet.
"Flüchtlingsunterkunft"
Der entscheidende Unterschied im Fall von Sankt Augustin ist das Wort "Flüchtlingsunterkunft". Es suggeriert: Hier sind ein oder mehrere Asylbewerber für die Tat verantwortlich. Damit schien klar: Diese Tat wird eine Debatte neu befeuern, die sich um die Frage dreht, ob Deutschland unsicherer geworden ist durch die Ankunft der Flüchtlinge seit 2015. Dass es dabei dann letztlich selten um die Sache selbst geht, sondern der Anlass oft eher dazu dient, Ängste, gefühlte Bedrohungen und Hass zu ventilieren, ist ärgerlich, ändert aber aus Mediensicht nichts daran, dass die Aufmerksamkeit für solche Fälle ein guter Grund ist, über sie zu berichten.
Um 6.54 Uhr berichten wir: "Vermisste 17-Jährige tot in Flüchtlingsunterkunft gefunden".
Allein: Der mutmaßliche Täter ist gar kein Flüchtling. Doch Konkurrenzmedien und auch ZEIT ONLINE geben der Tat einen Nachrichtenwert und berichten darüber, noch bevor wichtige Fakten bekannt sind. Das lässt sich als direkte Folge der Diskursverschiebung sehen.
Kriminalität durch Flüchtlinge ist insbesondere ein Thema, bei dem sich inzwischen kaum eine Redaktion vorwerfen lassen will, zu spät oder gar nicht zu berichten. Das begünstigt Fehler. Und diese Fehler sind heikler, als wenn es um Arbeitsmarktzahlen geht.
In den Stunden nach der ersten Meldung über den Fund der Toten zerbröselt dann die voreilig angenommene gesellschaftliche Relevanz. Der Klarheit halber: An der Grausamkeit des mutmaßlichen Tötungsdelikts änderte sich nichts, sondern an der Bedeutung dieser Tat für die Gesellschaft.
Wir erzeugen den Wind selbst
Die Nachrichtenagenturen aktualisieren ihre Berichte zu dem Thema laufend. Um 8.30 Uhr schreibt dpa erstmals von "städtischer Unterkunft", ohne das weiter zu erklären. Wenige Minuten später schickt die Agentur AFP ihren ersten Bericht zu dem Fall, dort heißt es: "Der Fundort der Leiche sei in einer städtischen Unterkunft gewesen, sagte der Polizeisprecher. Dort seien Flüchtlinge und Deutsche untergebracht – der Tatverdächtige sei Deutscher."
Spätestens zu diesem Zeitpunkt müssen also alle Redaktionen wissen: Die Lage ist alles andere als eindeutig. Um 9.04 Uhr korrigieren auch wir auf ZEIT ONLINE den Fundort der Leiche.
Um 9.18 Uhr meldet die dpa, der Tatverdächtige habe einen deutschen Pass und stamme "gebürtig aus dem Ausland" – die Polizei schließe eine "Beziehungstat" nicht aus. Einige Minuten darauf folgt eine Berichtigung der Meldung vom Morgen, in der es nun richtig "städtische Unterkunft" heißt, aber noch der veraltete Stand steht, es gebe keine Informationen über die Nationalität des Verdächtigen. Wenige Minuten später folgt wieder eine Meldung, in der der deutsche Pass erwähnt wird.
Um 10.33 Uhr steht fest: Der Tatverdächtige ist ein 19-Jähriger mit deutschem und kenianischem Pass (auch das haben wir in unserer Meldung korrigiert).
Damit hätte sich die Relevanz für den Streit um Kriminalität von Asylbewerbern eigentlich erledigt. Doch die Nachricht ist nun in der Welt, und nicht überall scheinen die neuen Informationen anzukommen oder erwünscht zu sein.
Es ist richtig, über Flüchtlingskriminalität zu berichten
So halten die Fakten rechte Trolle etwa auf Twitter nicht davon ab, den Fall weiter als Beispiel angeblich gescheiterter Flüchtlingspolitik umzudeuten. Sie geben vor, um das Opfer zu trauern, und verbreiten Hass gegen "Merkels Gäste", die "eine Blutspur durch Deutschland ziehen". Und wer jetzt denkt: Moment, der mutmaßliche Täter wurde nicht in Deutschland geboren, hat ja irgendwie auch was mit Flüchtlingen zu tun – der sollte sich fragen, ob sich in seinem inneren Diskurs eigentlich auch etwas verschoben hat.
Ja, es ist richtig, über Flüchtlingskriminalität zu berichten. Flüchtlinge tauchen überproportional häufig in der Polizeilichen Kriminalstatistik auf. Unter ihnen gibt es mehr junge Männer, eine Risikogruppe für Gewalttaten, auch Traumatisierung und Lebensumstände spielen eine Rolle. Es ist richtig, über diese Dinge zu schreiben, und auch über Menschen, die sich dieses Problems annehmen.
Es ist übrigens auch richtig, dem nachzugehen, dass der mutmaßliche Täter von Sankt Augustin offenbar polizeibekannt war, dass gegen ihn ermittelt wurde. Die Polizei muss erklären, weshalb sie ihn nicht für so gefährlich eingeschätzt hat, dass sie Untersuchungshaft beantragt hat.
Das Problem aber ist: Wenn wir Medien über Kriminalität durch Flüchtlinge berichten, weil die gesellschaftlich diskutiert wird, trägt das dazu bei, dass sie noch stärker wahrgenommen und diskutiert wird, was wiederum ihre Relevanz erhöht und damit die Wahrscheinlichkeit, dass wir mehr darüber berichten werden. Ein Effekt, der sich selbst verstärkt. Wir erzeugen den Wind, von dem wir uns dann getrieben fühlen.
Bemerken, wie sich die Stimmung ändert
Im Vergleich zu anderen Arten von Kriminalität ist die durch Flüchtlinge deshalb überrepräsentiert. Es ist frustrierend, dass ein Großteil der öffentlichen Debatte davon belegt ist und für andere wichtige Themen kaum Aufmerksamkeit bleibt. Andere Arten von Kriminalität etwa, für die es strukturelle Gründe gibt. Partnerschaftsgewalt ist so ein Thema. Vergangenes Jahr waren 113.965 Frauen davon betroffen. Vielleicht muss die Konsequenz sein, auch hier häufiger über angebliche Einzelfälle zu schreiben.
Das ist die zweifache Erkenntnis aus dem Fall Sankt Augustin, der keiner war: Zum einen, dass wir Journalisten bei Flüchtlingskriminalität eher noch vorsichtiger sein müssen als noch eiliger.
Zum anderen: Wenn sich die Stimmung in der öffentlichen Debatte ändert, verändert sich auch, welche Nachrichten als relevant gelten. Umso wichtiger ist es, dass wir es zumindest bemerken. Und dass wir noch mehr Mühe darauf verwenden, die Aufmerksamkeit auf jene Kriminalitätsformen zu lenken, die wir für mindestens ebenso relevant oder für relevanter halten als die Flüchtlingskriminalität.