Freitext: Paula Fürstenberg: Wir brauchen die Einheit nicht

 
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10.11.2017
 
 
 
 
Freitext


Wir brauchen die Einheit nicht
 
 
Auch wir Nachgeborenen unterscheiden noch zwischen „wir Ossis“ und „ihr Wessis“. Aber das ist nicht schlimm. Warum wir uns vom Einheitsgedanken verabschieden sollten.
VON PAULA FÜRSTENBERG

 
© Peter Kneffel / dpa
 
Es ist wieder Herbst in Deutschland, und seit ich denken kann, bedeutet das, dass der Osten zum medial umsorgten Problemkind wird. Irgendwo zwischen der Veröffentlichung des Jahresberichts zum Stand der Deutschen Einheit im September und den Jubiläen von Einheitsvertrag und Mauerfall im Oktober und November, dieses Jahr zusätzlich befeuert durch die Wahlerfolge der AfD, fragt sich das Land rituell, wie es eigentlich den Ossis geht. Diagramme belegen, dass es ihnen vergleichsweise schlecht geht: Auch wenn sich die Zahlen langsam angleichen, ist die Arbeitslosigkeit im Osten höher als im Westen und die Wirtschaftskraft geringer, sind die Durchschnittslöhne niedriger und die Renten kleiner. Dazu ist noch immer nur jeder zweite Deutsche der Meinung, die Menschen seien zu einem Volk zusammengewachsen. Nach 28-mal Herbst im wiedervereinten Deutschland kann ich das alles auswendig mitsingen, und lange dachte ich, diese Unterschiede gingen mich eigentlich nichts mehr an.
 
Einerseits gehören Begriffe wie Durchschnittslohn und Rente als Freiberuflerin sowieso nicht zu meinem aktiven Wortschatz, andererseits habe ich keine Erinnerung an das Land namens DDR, in dem ich 1987 zur Welt kam. Deshalb bin ich als Nachgeborene auch meistens nicht gemeint, wenn von Ossis und Wessis die Rede ist.
 
Nichtsdestotrotz fand ich zwischen den herbstlichen Berichten eine kleine Infografik, die mich seltsam berührte. „Der Osten erbt anders, ist sie überschrieben und zeigt anhand der Erbschaftssteuer pro Einwohner, dass in westdeutschen Familien ein Vielfaches an Vermögenswerten von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Meine Berührung hat aber nur am Rande mit der Verteilung von Kapital zu tun. Vor allem trifft das Diagramm eine Unterscheidung, die mir merkwürdig vertraut ist: Es teilt nicht nur jene Bevölkerung in Ost- und Westdeutsche, die die DDR von der einen oder anderen Seite der Mauer selbst erlebt hat, sondern auch die Erben: Nachgeborene wie mich, die die DDR nur vom Hörensagen kennen. Auch ich denke an Gleichaltrige als „wir Ossis“ und „ihr Wessis“ – nicht kategorisch, nicht ständig, aber regelmäßig. Angesichts der überwiegenden Gemeinsamkeiten (Kindheiten in der wiedervereinten BRD, auf denselben Spielplätzen, in denselben Schulen, vor denselben Fernsehprogrammen) scheint diese Kategorisierung fragwürdig: Wer soll dieses Wir sein, das sich in Abgrenzung zu einem Ihr bildet?
 
Wir Kinder von der Baustelle
 
Wenn ich wir sage – und wie jede Wir-Bestimmung ist auch diese an den Rändern unscharf, trifft sie auf den Einzelnen immer nur mehr oder weniger zu, schließt sie ein und aus –, wenn ich also wir sage, meine ich eine vierte Generation Ost, die zwischen 1985 und 95 geboren ist und keine eigenen Erinnerungen an die DDR hat, aber ostdeutsch sozialisiert aufgewachsen ist. Wir sind weder Ossis noch Wessis, beziehungsweise sind wir Ossis, wenn unsere westdeutsch sozialisierten Freunde Ossiwitze machen, und Wessis, wenn uns am heimatlichen Küchentischen attestiert wird, von der DDR keine Ahnung zu haben. Wir sind weniger von der DDR geprägt als von den Nachwendejahren und dem Prozess der Wiedervereinigung. Schauplatz unserer Kindheiten sind die Umbruchslandschaften der Neunzigerjahre, die neuen Bundesländer.
 
Während wir sprechen lernten, wurden um uns herum die Straßen umbenannt, die Innenstädte renoviert und die Fabriken aufgekauft oder stillgelegt. Während wir laufen lernten, erfanden sich unsere Eltern neu, hatten Geschäftsideen und keine Ahnung vom Geschäftemachen, gingen pleite und zum Arbeitsamt, wechselten den Arbeitgeber oder gleich den ganzen Beruf. Während wir lesen lernten, gingen über den Enthüllungen durch die BStU Beziehungen in die Brüche. Während wir schreiben lernten, wurden Gebäude der einen Epoche abgerissen und Gebäude anderer Epochen wieder aufgebaut. Kurzum, wir sind auf einer Baustelle groß geworden, die alle Lebensbereiche betraf, und vermutlich war das Elternsein in dieser Zeit nicht so einfach. Wie soll man seinen Kindern auch eine Idee davon vermitteln, wie das mit dem Leben gehen könnte, wenn es einen selbst hoffnungslos überfordert. Diese Kindheit auf der Großbaustelle ist es jedenfalls, die uns von euch, liebe westsozialisierten Freunde, unterscheidet. Überhaupt seid ihr wichtig für dieses Wir, denn ohne euch, ohne die Irritationen des Unterschieds, hätte es sich nicht zu bilden begonnen.
 
Der Unterschied offenbart sich (erstens) in Praktiken des Alltags. Wenn wir zusammen an den See fahren und ihr euch umständlich mit Schlüpfertrick in eure Badehosen manövriert, während wir gar keine Badehosen dabei haben. Wenn es eine sprachliche Verwirrung zwischen Pfannkuchen und Eierkuchen gibt. Wenn von Frankfurt die Rede ist und wir fragen: am Main oder an der Oder?, während ihr darunter selbstverständlich das am Main versteht. Wenn es einen Geburtstag zu feiern gibt und ihr „Weil heute dein Geburtstag ist“ nicht mitsingen könnt und stattdessen „Wie schön, dass du geboren bist“ anstimmt.



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