Heimat ist, was fehlt Wenn die Großeltern im Krieg flüchten mussten, spüren wir Enkelkinder das noch. Diesem Trauma müssen wir uns stellen, denn wir können daraus für die Gegenwart lernen. VON SILKE KLEEMANN |
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| | Eine geflüchtete Familie in Berlin, 1946. © Fred Ramage/Keystone Features/Getty Images |
"Schlesien habe ich mir immer wie eine Art Märchenland vorgestellt", erzählte mir vor einiger Zeit eine Bekannte, deren Großeltern ebenfalls am Ende des Zweiten Weltkriegs aus Breslau in den Westen fliehen mussten. "Bei meiner Oma hing in der Küche eine Landkarte von der alten Heimat, die hat meine Fantasie immer total angeregt."
Seither geht mir diese Beschreibung nach. In meiner Vorstellung ist Breslau, seit ich denken kann, eine zerbombte Stadt gewesen, grau und trist und tragisch, eine Stadt, der man den Rücken kehrt – den Rücken kehren muss –, eine Stadt, in die es kein Zurück mehr gibt. Für mich war neu, dass selbst Angehörige meiner Generation das auch ganz anders empfinden können. Aus der Jugend hatte ich zwar flüchtige sehnsüchtelnde Eindrücke von Vertriebenenvereinen, wo ich vor oder nach den Auftritten mit dem Mandolinenorchester, in dem ich damals spielte, abschreckende Redenschnipsel mitbekam. Revisionismus, nein danke. Doch einen positiv nostalgischen Blick zurück kannte ich aus meiner Familie auch nicht.
Dabei gab es im Umfeld etliche Schlesier, besser gesagt: Schlesierinnen. Meiner Großmutter und ihrer Schwester, meiner Großtante, der geselligeren der beiden, war es gelungen, einen ganzen Kreis von Freundinnen aus der alten Breslauer Kirchengemeinde in der neuen Heimat Düsseldorf wieder um sich zu versammeln. Diese schlesischen Kaffeekränzchen waren eine feste Instanz, mit Streuselkuchen, Bohnensalat und Nusshörnchen, bis die Reihen ab Ende der 1990er allmählich immer lichter wurden. Inzwischen lebt, soweit ich weiß, nur noch eine der alten Damen. Die Sprachmelodie jener Treffen wäre mir sicher sofort wieder vertraut, würde ich sie heute hören, doch von den schlesischen Ausdrücken, die sie verwendeten, ist bei mir nur "aufs Tippel gehen" hängen geblieben, im Tonfall meines Großvaters.
Enge und Mangelernährung
Das, was diese Menschen verband, ihre gemeinsame Wurzel, der Bezugspunkt ihrer Freundschaft, blieb mir jedoch immer fremd, ja suspekt. Breslau, eine Stadt, die eindeutig der Vergangenheit zugehörig war, einer schlechten Vergangenheit. Einer Vergangenheit, die auch mit Deutschland als Verschulder des Kriegs verknüpft war. Nichts, worauf man stolz sein könnte; nichts, womit ich mich hätte identifizieren wollen. Erst mit den Jahren ist mir klar geworden, dass mein sehr wenig ausgeprägtes Heimatgefühl mit den Fluchten in meiner Familie zusammenhängt.
Ich bin in Köln zur Welt gekommen, aber meine Eltern waren beide erst zum Studium in die Stadt gezogen. Meine Mutter, Jahrgang 1944, musste im Januar 1945 mit ihrer Mutter und Großmutter aus Breslau fliehen. Auf der Flucht wurde sie krank, was der Familie das Inferno von Dresden ersparte, wohin die Reise ursprünglich gehen sollte. Sie blieben zunächst auf einem Bauernhof in Österreich hängen, schlugen sich später nach Ratingen durch – dem Treffpunkt, den sie für den Krisenfall vereinbart hatten, weil es dort Verwandte gab. Man wies ihnen einen Wohnplatz bei einem nicht sonderlich empfangsfreudigen Försterehepaar zu, wo sie schließlich auch von meinem Großvater wiedergefunden wurden.
Mein Vater, Jahrgang 1939, verließ im Oktober 1943 die zerbombte Wohnung in Berlin und fand mit der Mutter und den vier Geschwistern Zuflucht in Oberfranken. Den Fotos jener Zeit nach erlebten die Kinder dort unbeschwerte Momente im sommerlichen Landleben. Meine Großmutter berichtete aber auch von der Enge, der Mangelernährung und den Reibungen mit der Schwiegermutter, in deren Wohnung sie einquartiert worden waren. Nach Einmarsch der Alliierten verlor sie im April 1945 innerhalb von zehn Tagen eine der Töchter durch Diphtherie und den jüngsten Sohn durch einen Unfall. 1948 siedelte die Familie in eine enge Vorstadtwohnung nach Weilburg in Hessen um. Das Haus, das für mich später als großelterliches fest zur Familiengeschichte gehörte, konnten sie erst in den 1960er-Jahren bauen.
Beide, mein Vater und meine Mutter, hätten ohne die Unterstützung anderer, ohne die Aufnahme an neuem Ort, nicht überleben können. Wie sollte mich das Thema Flucht also kaltlassen? Für mich ist es nie eine Frage gewesen, dass man Geflüchteten hilft – Hilfe für Geflüchtete hat überhaupt erst möglich gemacht, dass es mich gibt.
Nicht nur Wunden, auch Stärken und Talente
Seit ich selbst ein Kind habe, kann ich mir noch lebendiger vorstellen, was die Fluchten für meine Großmütter bedeutet haben müssen. Immerzu sorgt man sich nicht nur um das eigene Leben, sondern vor allem um das der Kinder. Aus der Geschichte meiner Familien habe ich früh, mit schmerzlicher Deutlichkeit, gelernt, dass Krieg großes Leid bedeutet. Der Verlust der Heimat ist nur eine Facette davon – und nicht die schlimmste, immerhin lebt man noch.
Vielleicht fällt es genau aus diesem Grund, dem Überleben, dem Nicht-so-schlimm-Dransein wie andere, so schwer, die eigenen Traumata zu würdigen, zu sehen, dass Be- und Verarbeitung guttun würden. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in Deutschland 12,5 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aus den ehemaligen Ostgebieten, 1947 betrug ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung in den westlichen Besatzungszonen etwa 16 Prozent, in der sowjetischen sogar 25 Prozent. Und zunächst stand für diese Menschen natürlich an erster Stelle, neu Fuß zu fassen. Sie alle haben jedoch auch ein Stück Geschichte, ihre persönliche Geschichte, an die weitergegeben, die nach ihnen kamen. Ob durch Reden oder Schweigen, der Einfluss ist da.
Angst vor Tunneln
An all das muss ich seit Beginn der sogenannten "Flüchtlingskrise" im Sommer 2015 immer wieder denken, wenn Geflüchtete als absolute Zahlenmengen referiert werden. Es mögen viele sein, die kommen, und doch hat jede und jeder von ihnen eine ganz eigene Geschichte. Es sind Geschichten, die mit Verlusten angefüllt sind, von Orten, Dingen, Menschen, Möglichkeiten, und so ist Heimat zunächst einmal das, was einem genommen wurde. Auch die Neuangekommenen hier werden dies über die Generationen weitertragen.
Dabei wurden bei uns in der Familie gar nicht so viele Geschichten erzählt. Ich erinnere mich, wie mein Großvater beim sonntäglichen Kaffeetrinken von den Frauen zum Schweigen gebracht wurde, wenn ihm plötzlich ein Erlebnis von seiner Flucht aus dem Kessel von Stalingrad einfiel. Ich erinnere mich auch an das große Rechteck Fleisch, das ihm am linken Oberarm über einer Wunde mit groben Stichen festgenäht worden war: Manchmal wagte ich die eigentümliche Konsistenz dieses Menschenflickens mit einer vorsichtigen Berührung zu ertasten – ein physischer Eindruck der Versehrtheit, nicht angefüttert mit einer Erzählung über die genaue Herkunft der Wunde. Ein Onkel meiner Mutter, Mitglied einer Fliegerstaffel, war im Krieg gefallen, wie auch der Verlobte meiner Großtante. Vor der Reise an die Front hatte sie ihm das Treueversprechen gegeben und dieses Versprechen konnte sie auch nicht brechen, als er nicht wieder zurückkam. Sie blieb ihr Leben lang ledig. Neben der Prinzipientreue hat diese Tante mir auch die Angst vor Tunneln hinterlassen. Sie war sehr reiselustig, nahm ihre Nichte und später uns Großnichten gerne mit, doch in jedem Tunnel begann sie unkontrolliert zu zittern – ein Überbleibsel aus der Zeit, als sie als Reichsbahnangestellte in Russland bei einem Bombenangriff auf einen Zug stundenlang verschüttet blieb.
Reise nach Breslau
Bei allem guten Willen das Alte von den Nachkommen fernzuhalten – es besteht doch im Bewussten und Unbewussten der Kinder und Enkelfort, ob die Geschichten nun erzählt oder gerade eben nicht erzählt worden sind. Dieses Fortwirken erzeugt nicht nur Wunden, es kann auch Talente und Stärken begründen. Weniger Ortsgebundenheit, größere Beweglichkeit. Mitgefühl, Offenheit dem Fremden, dem Verfolgten gegenüber. Womöglich eine größere Fähigkeit, sich an neuen Orten niederzulassen und sich selbst eine Heimat zu schaffen. Oder halt irgendwo zu sein, ohne Heimatgefühl. Durchaus auch gut.
Als ich vor einigen Monaten in Brüssel mit etwa gleichaltrigen Freunden zusammensaß – einer Engländerin, einem Tschechen und einer Italienerin – und wir über unser Aufwachsen in den verschiedenen Ländern sprachen, über den jeweiligen Blick zurück in die Vergangenheit und den länderspezifischen Umgang mit Kriegserinnerungen, stand ich am Ende des Abends mit einer Idee vom Tisch auf: Zum ersten Mal verspürte ich Lust, mich aktiv mit meiner verdrängten schlesischen Herkunft auseinanderzusetzen. Und so werde ich zum ersten Mal nach Breslau reisen, gemeinsam mit meiner Mutter und meiner Schwester. Breslau, wie wir die Stadt noch immer ganz selbstverständlich nennen, was den vergangenen, imaginären Charakter irgendwie noch unterstreicht und perpetuiert. Also versuche ich es mal mit Wrocław, wir werden gemeinsam nach Wrocław reisen, wo ich Geschichten – alte und neue – teilen und ein Gefühl dafür bekommen möchte, wie die Straßen sich dort heute laufen, wie die Luft sich atmet, wie das Flussufer aussieht, an dem meine Großeltern vielleicht, frisch verliebt, entlang spaziert sind. Und wo ich feststellen möchte, ob ich bereit bin, das graue Bild der Vergangenheit mit frischen Farben neu zu streichen, im Jetzt dieses Ortes anzukommen.
Silke Kleemann, 1976 in Köln geboren, lebt als freie Autorin und Übersetzerin spanischsprachiger Literatur in München. Sie begleitet Menschen mit Meditation und Jikiden Reiki und gehört zum Organisationsteam der Veranstaltungsreihe "Meet your neighbours – Begegnungsorte" in München. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8". Sie wollen der Diskussion unter dem Text folgen? Hier geht es zum Kommentarbereich. |
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