Freitext: Matthias Nawrat: Humanismus darf keine Illusion sein

 
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19.11.2017
 
 
 
 
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Humanismus darf keine Illusion sein
 
 
Mit Egoismus, Panik oder Wut reagieren viele auf die Unsicherheit der Gegenwart. Ist eine Utopie möglich, die dem Einzelnen wieder Halt und eine geistige Behausung gibt?
VON MATTHIAS NAWRAT

 
© Ryan Young//https://unsplash.com
 
Mein Onkel erkrankte als Kind schwer an der Lunge. Er wurde von Opole in ein Krankenhaus in Głuchołasy gebracht, wo er über mehrere Monate in einem Bett lag und mit dem Tod rang. In den 1960ern herrschten in Polen die kommunistischen Kader, durch die Planwirtschaft war das Land stark verarmt, die Krankenhäuser waren schlecht ausgerüstet. Mein Onkel erinnert sich an diese Zeit aus zwei Gründen: Zum einen sieht er vor sich, wie morgens regelmäßig einer der Ärzte an seinem Bett, das aus Platzgründen in einem Gang stand, im weißen Kittel vorbeigeht und in seinem Arm ein Baby trägt. Diese Babys, das sehe ich ganz deutlich vor mir, erzählt er mir, in seinem heutigen Wohnzimmer in Bamberg sitzend, hatten blaue Gesichter. Ihre Haut war wie aus blauem Wachs. Ihre Augen waren zugekniffen, die Münder zusammengepresst. Ich weiß nicht, wohin die Ärzte diese toten Babys brachten. Jede Nacht träumte ich, wie sie aus dem Fenster auf einen Haufen geworfen wurden.
 
Seine zweite Erinnerung aus diesen Monaten im Krankenhaus ist die an seine Mutter, meine Großmutter väterlicherseits. Sie arbeitete damals als Leiterin des Sekretariats einer Baufirma in Opole. Jeden Tag nach der Arbeit fuhr sie mit einem kleinen polnischen Fiat die 70 Kilometer von Opole nach Głuchołasy. Meine Mutter hat mich jeden Tag besucht und saß an meinem Bett, bis ich einschlafen konnte, sagt mein Onkel. Es gibt keinen Menschen, den ich heute mehr vermisse.
 
Diese Geschichte begleitet mich schon lange. Sie scheint mir, der ich heute in Berlin lebe, in der Welt des Jahres 2017 und also 25 Jahre nach dem Ende der totalitären Herrschaft des Kommunismus in Europa, etwas über das Leben zu sagen, von dem ich ehrlich gesagt ziemlich wenig verstehe.
 
„Nicht Swedenborgs Theologie entscheidet über seine Bedeutung, sondern sein Bemühen um eine Deutung der Heiligen Schrift und die Schaffung eines verbalen Raumes“, schrieb Czesław Miłosz in seinem Buch Das Land Ulro. „Dem Stil nach zwar völlig unpoetisch, ist Swedenborgs Werk, ähnlich der Divina Comedia, eine große Honigwabe, die von den Immen der Imagination einer gewissen Notwendigkeit entsprechend gebaut worden ist. Denn der Mensch bedarf einer Behausung, und es genügt ihm nicht ein Dach über dem Kopf im physischen Sinn; sein Geist braucht Bezug und Richtung in der Vertikalen wie in der Horizontalen. Daher spricht man wohl auch von erbaulicher Lektüre.“ Miłosz fragt in Das Land Ulro, ob der naturwissenschaftlich gebildete Westeuropäer, der nach der Dekonstruktion der Religion durch den Atheismus und nach den Erfahrungen des Holocausts und der totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts geistig entwurzelt wurde und in einem All schwebt, in dem alles zufällig und anhand von kalten Naturgesetzen geschieht, für sich eine geistige Behausung zu erschließen kann, in der er als Einzelner wieder Halt findet. Das Land Ulro aus einem Gedicht von William Blake ist eine geistige Landschaft des Todes, ein Waste Land, in dem es keine Hoffnung gibt, sondern in dem Sinnlosigkeit herrscht, weil der Mensch verstanden zu haben glaubt, dass es nur Materie und Naturgesetze und ökonomische Abläufe gibt, und dass nach dem Tod das Nichts kommt, und dass somit das Leben selbst absurd ist.

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