Was geschieht nun mit dem Balkon? Ob er abgeschraubt wird? Oder mit einer polierten Messingtafel, "In stillem Gedenken an die gescheiterten Jamaika-Sondierer", versehen? Gerüchten zufolge liegen schon erste Kerzen, Teddybären und Zettel in DIN-A4-Folientaschen ("Warum?") an der Pforte zur Parlamentarischen Gesellschaft. Dabei hatte man sich gerade an royal anmutende Zeremonien präkoalitionären Runternickens gewöhnt. Sollte alles Lüge gewesen sein? Es ist normal, dass nach einer Nacht wie der von Sonntag auf Montag unterschiedliche Auffassungen und viele Ungereimheiten existieren. Man ist es in Deutschland nicht gewöhnt, dass nach Sonnenuntergang schlechte Polit- und Parlamentsnews verkündet werden. "Die Spareinlagen sind sicher", die Bestätigung des Eurorettungsschirms, Schabowskis "Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich" und schließlich Genschers Rede auf dem Prager Balkon, immer handelte es sich bei Ansprachen nach Sonnenuntergang um eine Rettung im Antlitz des aufgehenden Mondes. Scheitern nach Mitternacht, das muss so eine Gesellschaft auch erst einmal verkraften. Und dass es auf eine Menge Fragen eben keine Antworten gibt. Noch nicht. Vielleicht ist das mit der hoch und runter genudelten Floskel "in unsicheren Zeiten" gemeint, mit der dieser Tage fast jedes Statement beginnt. Worauf genau sich die unsicheren Zeiten beziehen, weiß man nicht. Einiges bleibt ungewiss, ist ja auch klar, es gibt schließlich keine Regierung. Vielleicht gibt es wirklich Leute, die während des Wahlkampfes FDP-Werbesprüche wie "Jetzt wieder verfügbar: Wirtschaftspolitik" und "Digital first, Bedenken second" lasen und sich erleichtert in die Betten sinken ließen. Puh, Bedenken second, thank you Chrissy für jetzt wieder verfügbar sein, ich verlass mich auf euch, ich geh jetzt schlafen! Wer so denkt, glaubt bestimmt auch daran, dass es sich bei Schlagworten wie "Deregulierung" und "Selbstheilungskräfte der Märkte" um innovative Modelle der Sozialpolitik handelt. Dass ein Aufmerksamkeit inhalierender Politiker wie Christian Lindner sich aus Showgründen verhält, wie er sich immer verhält, ist nicht der Beginn einer unsicheren Zeit, sondern ganz im Gegenteil, Ausdruck eines Kontinuums. Jetzt bleibt zu hoffen, dass die FDP Wort hält und hundertprozentfestversprochen nicht mitregiert, weil das nun wirklich der Beginn einer Krise wäre. Sprachästheten, bitte tapfer bleiben Krise ist nämlich das andere Wort, das zurzeit für ziemlich alles verwendet wird. Es ist ja immer alles eine Krise. Wenn ein Filmproduzent seine Schauspielerinnen vergewaltigt, ist es die Feminismuskrise, unerzogene Kinder sind Ausdruck einer Gesellschaftskrise, der Mangel an bezahlbarem Wohnraum ist eine Immobilienkrise und wenn Angela Merkel keine stabile Mehrheit bekommt, ist es eine Regierungskrise. Hier handelt es sich in erster Linie um eine Krise des Wortschatzes. Ach so, nicht zu vergessen, wenn ein paar Zehntausend syrische Kinder zu ihren Vätern und Müttern nach Deutschland kommen dürfen sollen (muss ja nicht für immer sein), dann, ja dann, ist es natürlich die größte Krise, die dieses Land nach dem Krieg jemals gesehen hat. Dann spart man rhetorisch auch keine atmenden Deckel aus, dann wird gesockelt und präambelt, im – Sprachästheten, jetzt bitte tapfer bleiben – Sondierungspapier. Die deutsche Gesellschaft hat keinen gemeinsamen Traum mehr. Das ist nicht erst seit der letzten Bundestagswahl so. Es fällt schwer, wenigstens den kleinsten gemeinsamen Nenner vage zu umschreiben. Mit der AfD wurden zudem ein paar weitere Grundsätze über Bord geworfen ("erinnerungspolitische Wende", "Kinder an Grenzen erschießen", "das Wort völkisch rehabilitieren"), von denen man dachte, dass man das schon ausdiskutiert hätte. Das kommt nämlich dabei heraus, wenn man "Denkverbote und Sprachtabus" befreien will. Nein, es ist wirklich keine Krise, und nichts, aber auch gar nichts, ist unsicher. In einer unversöhnlichen Gesellschaft wird alles zunehmend unvereinbar. Die wahrgenommenen Veränderungen könnten als logische Entwicklung in einem Lehrbuch der Politikwissenschaft stehen. Man ist in Deutschland eben nicht immun. Gegen nichts. Nur zur Erinnerung: Sechs Millionen Deutsche haben eine rechtsextreme Partei ins Parlament gewählt. Wenn hier etwas in der Krise steckt, ist es vielleicht der politische Journalismus, der hier und da unbedingt beschwichtigen will. Vieles von dem, was geschrieben wird, folgt dem unbedingten Wunsch, einem Land, das mit sich selbst streitet, ein gutes Image zu verpassen. Allein die zahlreichen Einschätzungen, die um den schlichten Gedanken kreisen, dass egal was passiert, vielleicht doch alles ein Gutes hat. Mit Rechten reden, mit Minderheiten regieren, vielleicht läge darin irgendeine Chance. Ja, vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ganz egal, wer am Ende auf der Regierungsbank sitzt: Es handelt sich bei allem, was gerade geschieht, nicht um politische Betriebsunfälle, sondern um Gesetzmäßigkeiten. Ungewiss hingegen ist einzig die Zukunft des Bundesbalkons. Wird er jemals wieder betreten werden können, ohne dass es als schlechtes Omen verstanden wird? Diese Zeilen sollen ein Abschiedsgruß an den wunderschönen architektonischen Vorbau mit seiner herrlichen Balustrade in Berlin-Mitte sein. Frei nach einem bedeutenden FDP-Politiker muss man neidlos anerkennen, dass die Jamaika-Sondierer einen Balkon wirklich gut ausfüllen konnten. Adieu jedenfalls, good bye, Ende Geländer.
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