Auf den ersten Blick war es eine Riesenmeldung. Eine ehemalige Terroristin stimmt nach Jahrzehnten einem Treffen mit dem Sohn des Anschlagsopfers zu und bittet um Vergebung. Bei ihrem Delikt handelt es sich um eine politisch motivierte Straftat, also eine Angelegenheit allgemeinen Interesses. Vermutlich aus dieser Logik heraus fand das Treffen wie auch die Bitte um Entschuldigung von einer Zeitung initiiert und öffentlichkeitswirksam inszeniert statt. Silke Maier-Witt, ehemalige RAF-Terroristin, wegen Entführung und Mordes am Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer verurteilt, sowie dessen Sohn Jörg Schleyer begegneten sich bei einem von der Bild-Zeitung arrangierten Treffen in Skopje. Sie sprachen sieben Stunden lang miteinander. Wie für die Bild-Zeitung üblich, wurde die Begegnung in den Springer-Blättern, Sendern und sonstigen Kanälen nach Art einer Schmonzette mit der Frage nach Schuld und Sühne aufgemacht. Beide Protagonisten sind erwachsene Menschen, Maier-Witt ist 67 Jahre alt und Schleyer 63. Man fragt sich, was dazu geführt hatte, dass diese Zusammenkunft stattfand. Sicherlich wird man ein "paar Folgen schauen müssen", damit man einen besseren Eindruck von den Gesprächen erlangen kann. Die Frage nach der Entschuldigung war schließlich nur der erste Satz einer siebenstündigen Unterredung. Wie gesagt, Riesennachricht, zunächst. Auch ehemalige Terroristen werden alt Der Bild-Zeitung geht es verständlicherweise darum, das Maximum aus ihrem scoop herauszuholen. Das Verfahren ist bekannt. Man lässt den ersten Donner knallen, wartet, bis die Sekundär- und Tertiär-Berichterstattung abgeklungen sind, um den nächsten Kracher hochgehen zu lassen. Die DuMont-Blätter holten rasch Expertisen ein. So ließen sie den ehemaligen Bundesinnenminister Gerhart Baum oder Michael Buback, den Sohn des ebenfalls von der RAF getöteten Generalbundesanwalts Siegfried Buback erste Ferndiagnosen abgeben. Beispielsweise über die Frage, ob das Treffen in Ordnung sei (Buback: "Geht in Ordnung"), und die Glaubwürdigkeit der Reue (Baum: "Würde ich ihr abnehmen"). Auch ehemalige Terroristen werden alt und haben offenbar wie alle Menschen im Alter das Bedürfnis, auf ihr Leben zu schauen und ein Resümee zu ziehen. Das gilt eben auch für die RAF, von deren ehemaligen Mitgliedern nun nach und nach doch noch einige ihre Schweigegelübde brechen. Zuletzt gab Peter-Jürgen Boock, der bei der Schleyer-Entführung dabei gewesen war, dem Magazin Spiegel im August ein ausführliches Interview. Trotzdem bleibt bei allem Sprechen immer die eine Leerstelle. Denn die, die reden, verraten nichts. Das führt direkt zur Frage, warum Männer wie Michael Buback, Clais Baron von Mirbach (sein Vater Andreas Baron von Mirbach wurde 1975 in Stockholm ermordet) oder Jörg Schleyer, die drei prominentesten Söhne von RAF-Opfern, öffentlich auftreten. Sie wollen Aufklärung. So sagen sie es selbst. Es ist diese eine Frage, die über allem steht und ihnen keine Ruhe gibt. Sie lautet: Wer schoss? Die Akten werden unter Verschluss gehalten Jede neue Erkenntnis, wer wann wo anwesend war, wer welchen Anruf tätigte, wer bei wem auf dem Beifahrersitz saß, wer in wen verliebt war, wurde medial riesig aufbereitet, und trotzdem fand keine Aufarbeitung statt. Die Täter sind bekannt, es handelt sich um die RAF, wer aber sind die Mörder? Wenn die Söhne nicht wissen, durch wessen Hand der Vater starb, weil keine Namen genannt werden, ist die Frage, ob die Bitte einer Einzelperson um Vergebung echt ist oder nicht, ziemlich zweitrangig. Auf jeden Fall ist sie sehr intim und betrifft einzig die Opfer und nicht die Öffentlichkeit. Wie stark hingegen wirkt das Bedürfnis der Opfer nach Nennung der Täter? Immer wieder formulierten sie ihren dringenden Wunsch, zu erfahren, wer die Schüsse abfeuerte. Schleyer fragte wohl Maier-Witt. Ihre Antwort: "Hm". Was in dem medial ausgeschmückten Bühnenstück um Vergebung völlig untergeht, ist der Umstand, dass, wenn schon die Täter schweigen, der Staat den Opferangehörigen Einsicht in die Akten der Sicherheitsbehörden bezüglich der Morde verwehrt. Schleyer wie auch Buback baten immer wieder darum. Wie seltsam wirken da die Worte des Bundespräsidenten Steinmeier, der an die Täter appellierte: "Legen Sie endlich alles offen", derweil er die Akten wie alle Bundespräsidenten zuvor unter Verschluss hält. Wer erschoss die NSU-Opfer? Der nächste große deutsche Terrorismusfall nach der RAF wird aktuell in München verhandelt. Man hat das dutzendfache Flehen der NSU-Opferangehörigen im Ohr, die Beate Zschäpe und andere immer wieder geradezu anbetteln, endlich Namen zu nennen. Auch sie wollen wissen, wer ihre Väter und Ehemänner erschoss. Wie bei der RAF sind die wichtigen Passagen in den Akten des Verfassungsschutzes, des BND und anderer Behörden geheim oder gleich gar nicht mehr existent, weil geschreddert. Diese Woche hat die Tochter des Nürnberger NSU-Opfers Ismail Yasar dem Beschuldigten Carsten S., der im Gegensatz zu den anderen Angeklagten umfassend aussagte, folgende Botschaft ausrichten lassen: "Ich vergebe Ihnen. Ich will nicht mehr mit Wut zu Bett gehen und mit Wut aufwachen." Und an Beate Zschäpe gerichtet: "Wir verzeihen Ihnen nicht." Kann sein, dass Beate Zschäpe in 40 Jahren der Bild oder dem Spiegel ein großes Interview geben wird, in dem sie viel sprechen, aber keine Namen nennen wird. Irgendjemand wird dann Expertisen einholen, von denen, die damals als politische Entscheidungsträger involviert waren, also bei den Gerhart Baums der Zukunft. Es werden sicherlich Appelle an den NSU gerichtet werden, doch endlich auszusagen, ausgerechnet von denen, die auf den Akten sitzen. Eines lehrt die RAF wie auch der NSU. Kein Staatsakt, keine Interviews, nichts kann das Verlangen nach Erkenntnis, Ermittlung und Aufklärung stillen. Dies ist die zweitgrößte Sehnsucht der Opfer. Die erste gilt den fehlenden Angehörigen.
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