Kevin Kühnert gab der ZEIT ein Interview, in dem er erklärt, was er darunter versteht, wenn er meint, er sei ein Sozialist. Es ist ein Interview, das zur richtigen Zeit eine Leerstelle in der deutschen Öffentlichkeit füllt: die Gabe, laut nachzudenken. Lautes Nachdenken ist das Gegenteil von Wissen. Von Behaupten. Von Propagieren. Man kann das Nachdenken auch Philosophie nennen, was bedeutet, für das eigene Denken Argumente zu finden. Philosophie kann nie nur alleine betrieben werden. Einer beginnt mit dem Grübeln, ein anderer nimmt es auf, führt es weiter, lenkt es in andere Bahnen oder verwirft es zugunsten einer eigenen Theorie. Nun könnte man an dieser Stelle Kühnerts Thesen kommentieren. Zum Beispiel, ob er recht damit hat, wenn er feststellt, dass die deutsche Wirtschaftsordnung die Bedürfnisse von Millionen Menschen nach guten Lebensbedingungen gemessen am vorhandenen Kapital nicht erfüllen kann. Man könnte auch diskutieren, ob es legitim ist, dass ein 29-jähriger Mann, der in die Politik eintrat, um etwas zum Besseren zu verändern, und der (noch) kein Mandat hat, nicht geradezu zwingend darüber nachdenken muss, die bestehenden Verhältnisse in Frage zu stellen. Man könnte auch eine Weile darüber sinnieren, ob es nicht seltsam ist, dass bislang nicht viel mehr junge Politiker die etwas anstrengende Disziplin des Grübelns betreiben. Man könnte auch grundsätzlich über die Angewohnheit sprechen, bestehende Gesetze immer in Nuancen zu reparieren, sodass oft nicht einmal die Abgeordneten bei ihren Massenabstimmungen im Parlament eine Ahnung haben, was der Nebensatz, der einem Gesetz hinzugefügt wurde, in der Wirklichkeit bewirken wird. Die Reaktionen auf Kevin Kühnerts Nachdenken sind aber derart peinlich, dass es vielleicht an der Zeit ist, sich grundsätzlich ein paar Gedanken darüber zu machen, was es eigentlich mit dem Nachdenken in der Politik auf sich hat. Aus Kevin K.'s Nachdenken wird gerade Nachdenken über Kevin K. Tausendfache Realität Man kann im Interview nicht einen einzigen Satz finden, der in irgendeiner Form die Menschenrechte oder die Demokratie infrage stellt. Aber man findet viele Sätze, die man klassischerweise Kritik an den sozialen Verhältnissen nennen muss. Der einzige Unterschied zum üblichen Diskurs ist, dass sich ein Sozialdemokrat als Sozialist bekennt. Und natürlich landet der Sozialist Kühnert bei der Frage, was genau an der sozialen Marktwirtschaft noch sozial ist, wenn es immer mehr Armut gibt. Eine "alleinerziehende Mutter, die mit drei 450-Euro-Jobs sich und ihr Kind durchbringen muss" ist längst keine Denkfigur mehr, sondern ein lebender Mensch, keinesfalls bedauerliche Ausnahme, sondern tausendfache Realität. Wenn man Kühnert richtig interpretiert, will er weg von einer kapitalistisch orientierten Gesellschaft hin zu einer sozial agierenden Gemeinschaft. Im Grunde will er Lösungen für die millionenfache Armut und die Probleme einer Gesellschaft, die reich in Zahlen ist, nicht aber in Verhältnissen. Banken, Konzerne, Investoren, Wohnraum, Freiheit, Grundrechte – die Begriffe werden kurz angerissen. Wie gesagt, ab hier gälte es weiterzureden. Aber irgendwie sind innerhalb weniger Stunden aus Kühnerts grundsätzlichem Infragestellen sehr rasch "Kühnerts Forderungen" geworden. Man weiß jetzt schon, wie die Interviews der nächsten Tage mit ihm beginnen werden: "Sie haben gesagt, Sie wollen...". "Nein, ich habe gesagt, ich könnte mir vorstellen, dass ..." Undsoweiterundsobrokkoli. Die CSU wittert bereits den revolutionären Umsturz und fordert Distanzierungen von der SPD. Als wären die Jusos gegenüber der SPD weisungsbefugt. Die Reaktion der CSU besticht vor allem durch eine aggressive Verweigerung zur Reflexion. Also im besten Sinne konservativ. Das Bestehende bewahren. Skandalisieren und tabuisieren, was auch nur in die Nähe des Zweifelns gerät. Man freut sich schon jetzt darüber, wie es wohl sein wird, wenn die Gesellschaft sich eines Tages den Luxus leistet, mal wirklich was mit den Armen zu teilen, so richtig radikal und großzügig, sodass alle mehr haben und nicht nur ein paar wenige. Wer weiß, vielleicht streichen sie aus ihrem Parteinamen nicht nur das C, sondern bald auch das S. Hat man sich das nicht gewünscht? Liest man die Kommentare der Bürger, merkt man, wie aufgebracht sie nach Kühnerts Interview sind. "China!", rufen die Entsetzten rein, oder "DDR", "hatten wir doch alles schon mal". Es fehlt an Geduld und vielleicht auch an Lust, die Begriffe zu klären. Wer versteht was worunter? Eine Pleite-Diktatur wie die DDR, die den Mangel mit Planwirtschaft und Schießbefehl zu befrieden versuchte, kann man nicht mit China vergleichen, das einen ungezügelten Kapitalismus mit gigantischen Mengen an Produktion und Konsum, aber eben auch mit Geheimpolizei und willkürlichen Inhaftierungen betreibt. Begriffe wie Sozialismus oder Kapitalismus sind Theorien. Was die Menschen in ihren Ländern erleben, ist hingegen eine spezifische, politische Ordnung mit mal mehr oder weniger staatlicher Regulierung. Mit mehr oder weniger Fokus auf Gemeinsinn. Mit viel oder wenig Leidenschaft für privaten Besitz. Entweder mit Mut oder mit Buckeln gegenüber Konzernen. Alles Diskutieren, Bewerten, Urteilen und Entscheiden beginnt immer mit der Verständigung darüber, was die Worte, die man benutzt, bedeuten. Ist ein Dienstleister ein Arbeiter im klassischen Sinn? Ab wie vielen Wohnungen ist man ein Investor? Sind die Besitzverhältnisse des Unternehmens Deutsche Bahn das, was Kühnert unter einer Vergemeinschaftung versteht? Eigentlich ist genau das passiert, was man sich seit Langem wünscht. Ein Gespräch mit mit Politikern über politische Gesellschaftsformen und alternative Wirtschaftsordnungen. Darüber, ob sie im Großen und Ganzen eigentlich zufrieden sind. Ob sie an Sätze wie "der Markt regelt Angebot und Nachfrage" noch glauben. Es gibt in Deutschland eine sehr diverse Diskussionskultur, die jedoch kaum Resonanz in der größeren Öffentlichkeit findet. Auf Theaterbühnen, Kongressen, Literaturhäusern und vielen unterschiedlichen Diskursplattformen hört man Vorträge und Gespräche von Politikwissenschaftlern, Soziologen, Philosophen, und immer denkt man sich, warum kann so ein Vortrag nicht der Anfang eines größeren Deutschlandgesprächs sein, das die Frage beantwortet "Wie wollen wir leben?" oder "Wem gehört die Welt?" oder einfach nur: "Ginge es auch alles etwas anders als bisher?"
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