Freitext: Stephan Lohse: Die Nachbarin hat sich gekümmert

 
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12.05.2019
 
 
 
 
Freitext


 
Die Nachbarin hat sich gekümmert
 
Am Ende seines Lebens fehlen ein Pflaumenbaum im Garten, ein drittes Kind und ein ganz bestimmtes Foto im Familienalbum. Soll es das schon gewesen sein? Eine Erzählung
VON STEPHAN LOHSE

 
Sie war immer da und doch unsichtbar. © Richard Baker/In Pictures/Getty Images
 

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Und dann bleibt er stehen und betrachtet ein Blatt und erkennt im Fehler die Schönheit. Die Kinder sagen, naja, ein Blatt. Sie denken an das 1.000-Teile-Puzzle der Hagia Sophia zu Hause, das noch lange nicht fertig ist. Schon wieder verwechseln sie die Geest mit der Marsch und die Marsch mit der Geest. Die eine ist flach, die andere ist es nicht. Er wird ungeduldig, Endmoräne, sagt er, und die Kinder denken an einen Fisch, Schwemmland, sagt er, und Eiszeit und seht euch doch mal um. Die Kinder trotten in Gummistiefeln über den Weg, es geht wie immer am Sonntag, auch wenn die Mutter eine alte Schulfreundin in Süddeutschland besucht, nach dem Internationalen Frühschoppen in den Wald, der hier Brook heißt. Er sieht Vögel, die fortgeflogen sind, wenn die Kinder ihre schweren Köpfe in den Regen gehoben haben. Ein Eichelhäher, ein Kiebitz, eine Bachstelze. Im Wollgras steht ein Weidenröschen. Wir brauchen keinen Schirm, wir haben Kapuzen. Es ist eine Erlösung, wenn er auf seine Uhr sieht, die sich, bewegt man sie, selbst aufziehen kann, und darüber nachdenkt, wo er das Auto geparkt haben könnte.
 
Auf dem Rückweg wird er beim sonntagsoffenen Konditor Kuchen kaufen. Mit Schlagsahne, denn ohne sie ist ein Sonntag kein Sonntag. Er hat wieder Steine gesammelt und sortiert sie zu Hause aufs Fensterbrett. Eine morsche Baumwurzel erklärt er zum Kunstwerk. Seht sie euch an. Er ist der Vater, den er selbst nie hatte, weil sein Vater bei der SS war und im Feld schon bald lungenkrank wurde. Am Nachmittag, wenn der Regen Bäche aufs Fenster gießt, klebt er Transparentpapier von der Rolle auf den Tisch und zeichnet mit Zeichenleiste, Dreikantmaßstab und Rapidograph den Aufriss eines Gebäudes. Das ist sein Beruf. Vors Gebäude zeichnet er zwei Männer, die sich streiten. Das ist der Spaß an seinem Beruf. Die Kinder dürfen zusehen, wenn er einen Fehler am Gebäude mit der Rasierklinge vom Papier schabt, aber mucksmäuschenstill auf Strickstrumpfspitzen, und nicht am Tisch rütteln, sonst verwackelt der Strich.
 
Von der Sahne isst er den größten Teil, doch die Kinder bekommen den Kuchenkanten, den er nicht mag. Wenn er die Beine hochlegt, dürfen sie zu Fallerbahn und Fischertechnik, zu Fimo, Fang-den-Hut und Fix und Foxi. Zur Tagesschau müssen sie den Schlafanzug angezogen haben, die Zähne können sie danach noch putzen. Der Fernseher knistert, als zische eine Kerze in seinem Inneren, bevor Wilhelm Wieben im schwarz-weißen Grieß erscheint.
 
Nach dem Wetterbericht schickt die Tagesschau ein Morsezeichen aufs Meer und er die Kinder in die Betten. Bevor er schlafen geht, macht er Gymnastik am offenen Fenster, rollt die Schultern und streckt den Hals, nutzt Damenhanteln, schöpft Atem für die Nacht. Dann träumt er von Phosphorbomben und verkästen Schrumpfleichen, vom heißen Sturm, unter dem die Stadt zu rosafarbenem Staub zerfällt, träumt vom Gerücht, seine Mutter und zwei seiner Brüder lägen tot vorm Haus und hielten sich noch immer an den Händen. Er träumt vom Delirium, das ihm drei Tage die Sprache verschlägt, und das ihm am Ende seines Lebens deshalb nicht fremd sein wird. Zum Frühstück macht er Witze. Doch die Kinder verstehen sie nicht, sie sind noch halb im Schlaf. Er packt die Aktentasche (Zeichenleiste, Dreikantmaßstab, Rapidograph) und bricht auf zu einem anderen Leben am gegenüberliegenden Ende der Stadt. Seid nett in der Schule.




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