| | Verschwindet der Schnee endgültig von der Erde, dann ist das unterirdische Reich der Frau Holle zu Ende. © Mark Rabe/unsplash.com |
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Mária lebt in Rákospalota. In einem äußeren Bezirk von Budapest, wo vor vierzig Jahren an der Stelle des Wäldchens am Stadtrand zehnstöckige Häuser aus dem Boden schossen. Im Sommer liegt eine derart wahnsinnige Hitze über dem Bezirk, dass man auf dem Asphalt des Gehwegs Spiegeleier braten könnte. Früh am Morgen macht sich Mária auf den Weg zur Arbeit, sie fährt mit der Straßenbahnlinie 69, steigt dann in die Metro um. Sie arbeitet bei einer Informatikfirma in der Innenstadt, nahe am Donau-Ufer. Zu ihren morgendlichen Gewohnheiten gehört, dass sie einen kleinen Umweg über die Promenade im Stadtteil Lipótváros macht. Sie bleibt an dem betongesäumten, gepflasterten Ufer des Flusses stehen und schaut am Brückenkopf hinunter. Diese schlanke, junge Frau aus Budapest liebt es, in die strömende, schnell dahinfließende Donau zu starren, sie liebt es, in den morastigen Duft des Flusses hineinzuschnuppern und die vorbeiziehenden, voll beladenen Schlepper zu beobachten. Während das gelbe, schlammige Wasser strudelt, stellt Mária sich vor, wie sie am klobigen Brückenfuß steht. Was würde wohl passieren, wenn sie hineinspränge? In solchen Momenten breitet ihre Fantasie die Arme aus, und sie sieht sich mit dem Kopf nach unten, mit den Haaren voran dahintreiben. Sie bekommt Gänsehaut. Spürt, wie ein Kribbeln sie durchfährt und sie in den Trichter des tiefen Strudels eintaucht, den heißen Sommerasphalt nie wiedersieht. Die Informatikfirma, ihre Chefin, die Kantine, den Konferenzraum, die Tabellen auf dem Bildschirm ihres Computers. Sie lässt den nervenaufreibend pulsierenden Befehlston der irdischen Welt hinter sich. Dann fällt ihre Fantasie plötzlich wieder in die Wirklichkeit zurück. Sie muss sich sputen, ist zu spät dran. Mária eilt in die Firma zur Arbeit, sie rennt die Straße entlang, zum Tor hinein, wippt mit ihrer Handtasche vor dem lächelnden Schnauzer des Pförtners vorbei, meldet sich mit der Chipkarte am Tor an, setzt sich schließlich in ihren Sekretärinnenstuhl und schaltet Punkt acht den Computer an. So bleibt ihr das Kreischen der Chefin erspart; die durch das Büro schwirrenden, schrillen Anweisungen fallen aus dem Tagesablauf. Es ist ihr gelungen, früher da zu sein. Mária wirft, nachdem sie den Computer angeschaltet hat, einen Blick in den Google-Kalender. Für den Vormittag ist eine Konferenz eingetragen, die Namen fehlen, sie muss sie schnell aus den E-Mails heraussuchen, Namensschilder anfertigen, mittags dann ein Essen in Buda, im Restaurant eines Hotels mit jemandem aus dem Ministerium, zuständig für die Ausschreibungen. Wie würden sie das schaffen? Ziemlich knapp, sie müsste das Treffen um eine halbe Stunde verschieben, aber das wäre ein zu großer Umstand, lieber doch nicht, sie würde sich etwas ausdenken, improvisieren. Sie nähmen das Taxi. Am Nachmittag wieder ein Meeting mit den Kontrolleuren aus Hamburg. Dann verschiebt sich auch das, und am Abend Empfang mit einer NGO, da gibt es dann wenigstens ein vegetarisches Menü und Erdbeerwein. Sie hat noch nicht einmal den Kaffee gekocht, den Konferenzsaal vorbereitet, dabei hatte ihre Chefin extra um Blumen gebeten. Der junge Personalchef klopft, für den hat sie nun wirklich keine Zeit, ständig jammert er, wie viele Leute er rausschmeißen muss und dass sie ihn furchtbar langweilen, sich ständig auf ihre Familien und Kinder berufen. Personalchef abgehakt. Jetzt fällt ihr ein, dass ihre Chefin am Vortag von Tulpen gesprochen hat. Mária rennt sofort los, zurück auf die Straße und dann wieder hoch in den sechsten Stock, in die Informatikfirma. Sie ist schweißgebadet, ständig klingelt ihr Telefon. Das blaue Logo blinkt, Viber, dann eine Nachricht, das Handy vibriert. Es ist ihre Chefin. Sie befinde sich im Parkhaus, steige gerade aus, Fahrstuhl samt Wartezeit zwei Minuten. Und jetzt ein Facebook-Event, ihre beste Freundin hat heute Geburtstag … gratuliere ihr mit einem besonderen Emoji! Mária schickt ihr eine lachende Blase, die beiden Zahnreihen strahlen weiß. Sie befinden sich im Konferenzraum, die Besprechung hat begonnen. Die bunten Tulpen hocken in Glasvasen. Wenn die Zeit gekommen ist, wird sich Mária dem Protokoll gemäß entfernen, weil ein vertraulicher Teil folgt. Die Chefin mag es nicht, wenn sie dann dabei ist, und sie hasst es, dabei zu sein. So würde sie ein paar freie Minuten haben. Mária überlegt, schnell unter die Dusche zu springen, von der Rennerei ist sie ganz verschwitzt. Und überhaupt, neuerdings hat sie unverständlich oft Herzrasen, aber nicht stressbedingt, das kann nicht sein. Genau dann, wenn alles läuft, wenn auch ihre Chefin zufrieden, in mütterlichem Ton sagt, "danke, Mária, meine Liebe". Bei solchen liebenswürdigen Worten pocht ihr Herz.
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