Fünf vor 8:00: Wall Street Journal vs. PewDiePie - Die Morgenkolumne heute von Jochen Bittner

 
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 FÜNF VOR 8:00
02.03.2017
 
 
 
 


 
Wall Street Journal vs. PewDiePie
 
Dem YouTube-Star Felix Kjellberg wird Antisemitismus vorgeworfen. Das ist genau so unsinnig wie dessen Vorwürfe gegen die "Mainstream-Medien".
VON JOCHEN BITTNER

Ich muss gestehen, bis gestern kannte ich den womöglich meistgesehenen YouTuber der Welt nicht. Der Mann heißt Felix Kjellberg, kommt aus Schweden, hat als PewDiePie um die 53 Millionen Abonnenten, und wird angeblich gerade von den Mainstream-Medien fertiggemacht. Kjellbergs Erfolg, um mit ihm zu beginnen, gründete offenbar auf der Idee, das Daddeln von Videospielen zu kommentieren und dabei zu filmen. Die zweistelligen Millionenverdienste, die ihm dies jährlich einbrachte, seien ihm gegönnt.

In mein persönliches Medienuniversum geriet Kjellberg offen gesagt erst, als die FAZ über ihn berichtete, dass das Wall Street Journal über ihn berichtete, dass er "antisemitische Witze" verbreitet habe. Woraufhin der Disney-Ableger Maker-Studios und Google Kjellberg dessen lukrative Werbeverträge gekündigt haben. "König der YouTuber im freien Fall", fasste die FAZ die Geschehnisse zusammen.

Ups. Was war passiert? Kjellberg, 27, war auf die Website Fiverr gestoßen, die für eine Handvoll Dollar allerlei Dienstleistungen anbietet. Zum Portfolio gehören auch zwei Männer (sie nennen sich "funnyguys"), die – in Baströckchen vor einer Dschungellandschaft tanzend – alle möglichen Botschaften in die Kamera wedeln. Kjellberg bestellte dort, für fünf Dollar, wie er sagte, die Botschaft "death to all jews", "Tod allen Juden". Die funnyguys taten wie geheißen und hielten ein entsprechend beschriftetes Pappschild in die Höhe, während sie eine Art, nun ja, Tanz aufführten. In seinem YouTube-Video, in dem Kjellberg die erfolgreiche Clip-Bestellung vorführte, zeigte der sich einigermaßen erstaunt darüber, dass die funnyguys die Nummer tatsächlich durchgezogen hatten.

"Tut mir Leid", sagt Kjellberg am Ende des Videos, "ich hätte nicht gedacht, dass sie das wirklich tun würden. Ich fühle mich mitverantwortlich. Ich meine, ich musste ihnen fünf Sterne für ihre herausragende Darbietung geben, denn immerhin haben sie getan, um was ich sie gebeten habe." Er fügte hinzu: "Ich fühle mich nicht gut. Ich bin nicht besonders stolz darauf, ich will nicht lügen. Ich bin nicht antisemitisch oder wie immer man das nennt, okay, also versteht die Idee nicht falsch. Es war ein lustiges Meme, und ich dachte nicht, dass es funktionieren würde, okay? Ich schwöre, ich liebe Juden, ich liebe sie. Es tut mir Leid. Ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll."

Das Wall Street Journal (WSJ) nahm das Video zum Anlass, Kjellbergs Beiträge auf antisemitische und nazistische Inhalte hin zu prüfen. Derartige Inhalte machten die Reporter ihrem Urteil nach in neun PewDiePie-Videos der vergangenen sechs Monate aus. Unter anderem tauchen in mehreren Fällen Hakenkreuze auf, außerdem habe Kjellberg den Arm zum Hitlergruß erhoben (was dieser bestreitet). In einem anderen Clip schaut sich Kjellberg in einer Kostümuniform eine Hitler-Rede an.

PewDiePie sei zu weit gegangen, befanden nach dem WSJ-Artikel seine Vertragspartner und kündigten die Zusammenarbeit. Wohlgemerkt: Kjellberg kann auf YouTube weiter veröffentlichen, was er möchte – die Inhalte werden nur nicht mehr vergütet wie bisher.

Für Kjellberg und viele seiner Fans ist vollkommen klar, was hier abläuft: Ein fieses Mainstream-Medium wie das Wall Street Journal stellt einen unabhängigen Internetstar an den Rassismus-Pranger, einfach, weil der zu mächtig geworden sei, "weil sie Angst vor uns haben", wie Kjellberg in einem weiteren Video sagte. In ihm entschuldigt er sich für den "Tod allen Juden"-Clip, er habe wirklich niemanden verletzen wollen – und empfahl dem Wall Street Journal, sich selbst zu ficken.

Hier liegt kein Political-Correctness-Skandal vor

Messen die bösen "MSM" (Mainstream-Medien) tatsächlich mit zweierlei Maß? Schließlich: Was ist der prinzipielle Unterschied zwischen einem Jan Böhmermann, der den türkischen Staatspräsidenten übelst beleidigt, um angeblich zu demonstrieren, wo die Satirefreiheit endet, und einem Felix Kjellberg, der bei ein paar Hanseln einen antisemitischen Spruch bestellt, um angeblich bloßzustellen, welches bizarre Business das Netz ermöglicht? Beide Darbietungen ließen sich schlicht unter Kunstfreiheit fassen. Breite Verdammung von vermeintlich liberaler Seite erfuhr allerdings nur Kjellberg. Die Schriftstellerin J. K. Rowling warf PewDiePie auf Twitter "Faschismus" vor. Nun ist J. K. Rowling keine Journalistin. Und ihr Vorwurf ist nicht nur haltlos, er verharmlost auch Faschismus, weil er den Begriff verwässert.

Den Journalisten des Wall Street Journal sollte ebenfalls klar sein, dass ein Gag, der ganz bewusst mit dem Tabu des Antisemitismus spielt, etwas anderes ist als ein antisemitischer Witz. Der Urheber eines solches Gags macht sich Judenfeindlichkeit nicht zwangsläufig zu eigen, der Erzähler eines judenfeindlichen Witzes sehr wohl. Abgesehen von dieser Ungenauigkeit lässt sich dem WSJ allerdings keineswegs vorwerfen, es habe eine Rassismus-Kampagne gegen Kjellberg lostreten wollen. Der Artikel vom 14. Februar (Disney Severs Ties With YouTube Star PewDiePie After Anti-Semitic Posts) ist ausgesprochen nüchtern geschriebenen und kreist weniger um moralische Urteile als vielmehr um das "Risiko", welches Firmen wie YouTube und Disney bei ihren ehrgeizigen Versuchen eingehen, ein junges Publikum zu reichen. Indem sie nämlich "Verträge mit Talenten schließen, die die Grenzen dessen verschieben könnten, was innerhalb der Firmenstandards oder grundlegender sozialer Normen akzeptabel ist."

Und genau hier liegt kein Political-Correctness-Skandal vor, sondern ein wirklich interessantes Thema aus der Abteilung "Meinungsfreiheit und Internet":

Ist es nicht einerseits verständlich, dass sich ein 27-Jähriger ein humorvolleres, vielleicht auch wagemutigeres Verhältnis zum Antisemitismus und zur Nazi-Zeit erlaubt als ein 72-Jähriger?

Und ist es nicht andererseits verständlich, dass ein Konzern wie Disney sich in der Pflicht fühlt, die Wirkung eines solchen Humors auf eine größere und sensiblere Konsumentengruppe zu bedenken?

Wer von solchen Firmen bezahlt wird, sollte sich deshalb den möglichen vertraglichen Folgen seiner Meinungsäußerungen bewusst sein. Kjellberg hat darüber offenbar kaum nachgedacht, und deswegen ist es auch ziemlich billig, wenn er sich jetzt als Opfer stilisiert.

Niemand hat ihm irgendetwas verboten. Er sollte bloß nicht erwarten, für grenzwertige Provokationen dauerhaft mit Millionengagen von Werbepartnern belohnt zu werden, die im Zweifel eher ihren eigenen Ruf schützen wollen.

Mainstream gegen Newcomer? Unfug. Hier steht lediglich das Geschäftsmodell Kjellberg gegen das Geschäftsmodell Disney.

Ziemlich einig dürften sich so ziemlich alle Seiten wohl beim Urteil über die Jungs von funnyguys sein: Wie behämmert bitte kann man für fünf Dollar sein?



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Fünf vor 8:00 ist die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE. An jedem Werktag kommentieren abwechselnd unter anderem Michael Thumann, Theo Sommer, Alice Bota, Matthias Naß, Martin Klingst und Jochen Bittner.