Kiyaks Deutschstunde: Der "Schulz-Effekt"-Effekt

 
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Kiyaks Deutschstunde
29.03.2017
 
 
 
 
Was meinen Politiker, wenn sie sagen, was sie sagen? Und: Was meinen sie wirklich? Mely Kiyak sagt’s Ihnen!


Der "Schulz-Effekt"-Effekt
 
Es ist schön, dass Martin Schulz der SPD wieder Mitglieder beschert. Aber was ist eigentlich der "Schulz-Effekt", von dem jetzt ständig alle reden?
VON MELY KIYAK

Dieses Dingensbummens, wenn man aus Weißkohl Sauerkraut macht, diese Milchsäuresache, diese … wie heißt das noch? Richtig: Fermentierung. Das ist ein Effekt, der eintritt, wenn man bestimmte Lebensmittel gären lässt. So stellt man Tofu, Kimchi, Sojasoße, Käse, Wein und vieles andere her. Das Prinzip ist immer dasselbe. Man wandelt eine Sache in eine andere um, indem man sie stehen lässt und abwartet.

Wie aber wandelt man die SPD in eine Erfolgspartei um? Richtig, man setzt auf den "Schulz-Effekt". So zumindest las man es vorab zur saarländischen Landtagswahl. Man spricht jetzt so. In Wissenschaftstermini.

Die Kollegen aus der Politikberichterstattung waren völlig aus dem Häuschen. Erst behaupteten sie den "Schulz-Effekt" ("SPD setzt auf Schulz-Effekt!" "Umfragen bestätigen den Schulz-Effekt") und konnten es anschließend kaum fassen ("Schulz-Effekt verpufft", "Schulz-Effekt geschrumpft", "War der Schulz-Effekt nur ein Luftschloss?"). Was ist der "Schulz-Effekt"?

Eine fantastische Entdeckung!

Mit Effekten bezeichnet man in der Wissenschaft Phänomene, die man in der Natur beobachtet und erforscht. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse finden zumeist einen praktischen Nutzen. Man schaut beispielsweise auf eine Blume in Fernost und bemerkt, dass ihre Blätter sich selbst reinigen. Unter dem Mikroskop macht man die fantastische Entdeckung, dass die Blattstruktur eine besondere Oberfläche aufweist, die dafür sorgt, dass Regen, Schmutz und Tiere geschmeidig wie auf einer Wasserrutsche heruntergleiten. Voilà, der Lotus-Effekt. Da er bereits millionenfach in der Automobilindustrie Verwendung gefunden hat, hofft man nun auch auf Flugzeugbeschichtungen mit Abperl-Effekt. Matthäus-Effekt, Grimpel-Effekt, Soziologie, Psychologie, überall gibt es Effekte. Alle bekannt.

Man schlägt erneut im Lexikon nach: Affekt, Alpha-Effekt, Halluzination, I, J, K, Leidenseffekt, Osmose, Penicillin, S wie Schulz – nix!

Es ist bemerkenswert, dass Martin Schulz als Kanzlerkandidat Tausende von Mitgliedschaften nach sich zog. Seriöse Politikwissenschaft betreibt dennoch zunächst eine Bestandsaufnahme. Vor der Veränderung zum Guten war die Misere. Man kann also angesichts von Schulz' Erfolgen auch die These formulieren, dass er vom "Sigmar-Gabriel-Effekt" profitiere. Tausende von Parteimitgliedern könnten ja auch aus Dankbarkeit wieder eingetreten sein. Weil der andere weg ist. Ein Programm im näheren Sinne hat Martin Schulz nicht. Soziale Gerechtigkeit. Mehr Europa. Soso. Wie? Wo? Man weiß es nicht. Das Parteiprogramm für die Bundestagswahl wird erst noch beschlossen. Auf der Website der SPD steht, vermutlich Ende Juni. Vielleicht aber auch nicht.

Warum wurde das Ergebnis der AfD eigentlich so verschämt nicht diskutiert? Wo früher einmal wie selbstverständlich die Grünen im Landtag Platz nahmen, machen sich die Rechtsradikalen breit. Ist das nicht das viel interessantere Phänomen?

Wie immer. Man sieht nur, was man sehen will. Der erste Schritt zur Entpolitisierung der Politikberichterstattung führt immer über die Etikettierung. Wo es einen Mangel an politischer Rhetorik und Verständnis von gesellschaftlichen Zusammenhängen und Interesse gibt, setzen die berühmten Effekte ein. Für den Politikteil einer Zeitung ist die Behauptung und Erfindung eines Effektes unseriös. Bei Martin Schulz handelt es sich lediglich um eine Hoffnung. Auf etwas zu hoffen und hartnäckig zu behaupten, dass sich die Heilserwartung erfülle, hat etwas Sektenhaftes. So wartet man auf den Messias. Oder den Bofrostmann.

Ein Spiel dauert … und so weiter

Noch bizarrer ist es, wenn der Fachmann selbst dieses Spiel weitertreibt. Nach der verlorenen SPD-Wahl im Saarland – um nichts anderes handelt es sich – wurde nicht etwa die SPD-Spitzenkandidatin im Saarland kurz und klein befragt, sondern Martin Schulz. Als wäre er angetreten. Und so hatte er sich folgende präzise Wahlanalyse zurechtgelegt:

Ein Gegentor heißt noch nicht, dass das Spiel entschieden ist.

Aha.

Stimmenverluste sind Gegentore. Parteien demzufolge Mannschaften. Und Wähler sind Fans?

Der SPD im Willy-Brandt-Stadion sollte sich schleunigst ein paar "Strategien" ausdenken. Die wichtigste wäre vielleicht, dass er sich diese Fußballersprache abgewöhnt. In der Nacht nach der Saar-Wahl twitterte Schulz irgendetwas von Langstreckenläufen, Sprints und dass ein Spiel 90 Minuten dauere. Man kann es nicht komplett zitieren. Es ist einfach zu schrecklich. 

Wenn er als ehemaliger Buchhändler, der er vor Jahrhunderten mal war, wenigstens aus der Literatur zitieren würde, könnte man ihn in eine Reihe stellen mit den aus der Belletristik bekannten Wirklichkeitsübertragungen wie den Werther-Effekt. Und wenn er noch den berühmtesten Romananfang aller Zeiten bemüht hätte, "Alle glücklichen Parteien ähneln einander, jede unglückliche Partei …", dann hätte er vielleicht wirklich die Chance, als Weißkohl in die Wahl zu gehen und als Sauerkraut veredelt rauszukommen. Ansonsten droht ihm ernsthaft der aus der Chinaböllerforschung bekannte Knall-puff-weg-Effekt.

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