Freitext: Tanja Maljartschuk: Schlummernde Schande

 
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03.03.2017
 
 
 
 
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Schlummernde Schande
 
 
Der Kommunismus hat gezeigt, dass die menschliche Natur miserabel und finster ist. Wie jedes totalitäre Regime. Es ist verstörend, die Spuren noch immer zu sehen.
VON TANJA MALJARTSCHUK

 
© Maxim Zmeyev/Reuters
 
Es ist sechsundzwanzig Jahre her, dass der Kommunismus in meiner Heimat zusammenbrach. Seitdem verging eine kleine Ewigkeit, für manche sogar ein ganzes Leben. Die meisten Soldaten, die im ukrainischen Osten bereits gefallen sind, haben den Kommunismus nie erlebt. Ich erinnere mich selbst auch nur dunkel daran. 1991 war ich acht Jahre alt und trug keine Lenin-Abzeichen auf der Brust und keine Pionierhalstücher. Trotzdem zucke ich zusammen, wenn ich die Spuren des Kommunismus, vorwiegend in der Architektur, irgendwo außerhalb der Ukraine erkenne, auf der Karl-Marx-Allee in Berlin zum Beispiel, oder in den kleinen Orten an der Ostsee, oder im kroatischen Rijeka letzten Sommer. So reagieren Menschen, die eine tödliche Infektion überstanden haben.

Um geheilt zu werden oder gar am Leben zu bleiben, mussten sie Opfer darbringen und gesundeten trotzdem nicht vollständig. Die einen verloren ihre Familien, da ein oder mehrere Familienglieder an Hunger verstarben oder verhaftet, vernichtet, verbannt wurden. Die anderen opferten ihr gutes Gewissen, sie verleugneten, denunzierten oder ließen verhungern, verhaften, verbannen. Das Schlimmste am Kommunismus war eben dieser Zwang (oder die besten Konditionen dafür) gewissenlos, ehrlos zu sein. Wer das nicht konnte, büßte schwer. Büßen mussten jedoch auch diejenigen, die sich in den gewissenlosen Zeiten wohlfühlten. Ihre Biografien las ich früher gelegentlich, um meinen schwachen Glauben zu stärken und mich zu beruhigen, dass das Böse noch im selben Leben bestraft werden könnte. Bis zum Anfang des Zweiten Weltkrieges brachten sich zwei Volkskommissare für innere Angelegenheiten der ukrainischen sowjetischen Republik um. Einer versuchte es, überlebte, wurde aber später getötet und ein weiterer erwürgt. Und acht bekamen mehrere Kugeln in den Kopf auf einer Datscha vom ebenso kürzlich erschossenen Chef des sowjetischen Innenministeriums NKWD, Genrich Jagoda, in Moskau. Auf dieser Datscha namens Kommunarka fanden ungefähr fünfzehntausend hohe sowjetische Beamten ihren Tod und wurden anschließend in der Mehrzahl nicht rehabilitiert, weil sie selbst blutige Verbrechen verübt hatten.

Zu viel Lüge, zu viel Gewalt

Ein weiteres Spiel für mich war zu recherchieren, wer welche Nationalität unter den sowjetischen Tätern hatte. Ich wünschte mir, dass sie keine Ukrainer wären. Diese Hoffnung pflegen immer noch viele. Sie sprechen über den Kommunismus, als wäre er ausschließlich von außen durchgesetzt, eine Eroberung unter massivem Widerstand des ehrenhaften „wir“. Dabei fühlen sich diese „wir“ beleidigt und verletzt, sie möchten sich rächen und akzeptieren nicht, dass die kommunistische Gesellschaft, wie der arme Dr. Jekyll, geteilt, doppelgesichtig war. Der eine Teil der Gesellschaft misshandelte den anderen. Nachbarn gegen Nachbarn, Brüder gegen Brüder (obwohl in einem traurigen ukrainischen Weihnachtslied jedes Jahr „Brüder FÜR Brüder“ gesungen wird). Und es mag sein, dass die Rolle der Opfer in einer solchen höllischen Ordnung zufällig verteilt wurde. Unter anderen Umständen hätten die Opfer möglicherweise auch Täter sein können. Wie jede andere Form eines totalitären Regimes erinnert der Kommunismus daran, dass die menschliche Natur miserabel und finster ist, mehr als man denkt. Darum funktionieren solche Regime so gut. Aber wie genau?

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