10 nach 8: Yael Inokai über Geschichtsbewusstsein

 
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10.03.2017
 
 
 
 
10 nach 8


Opas Uniform
 
Wer wart ihr? Was hat der Krieg mit euch gemacht? Unser Engagement für den Frieden sollte mit einem Blick zurück in die eigene Familiengeschichte beginnen.
VON YAEL INOKAI

Wer waren unsere Großeltern? Erinnerung und Wahrnehmung funktionieren selektiv. © claudiarndt/photocase
 
Wer waren unsere Großeltern? Erinnerung und Wahrnehmung funktionieren selektiv. © claudiarndt/photocase
 
 

Von allen Gefühlen, die beim Blick auf das Weltgeschehen aufkommen, ist die Machtlosigkeit wohl eines der bestimmenden. Welche der Schreckensmeldungen, die durch die medialen Kanäle rauschen, greift man auf und widmet ihr mehr als ein paar Minuten Aufmerksamkeit?

Wo kann man ansetzen, etwas zu tun, damit der Blick nach vorne hoffnungsvoller wird?  
Vielleicht sollte Engagement auch am Küchentisch beim Essen mit der Familie anfangen. Aus dem Blick nach vorne könnte der Blick zurück werden. Keine Geschichtsbücher, kein Internet, sondern zwei simple Fragen: Wer seid ihr und wer wart ihr? Denn ich bin ein Teil von euch. Eure Geschichte gehört nicht nur euch alleine.

Meine Großeltern sitzen schon lange nicht mehr an diesem Tisch. Augenscheinlich ist mir von ihnen nicht viel mehr geblieben als ein Ehering, ein paar Fotos und eine Handvoll Erinnerungen. Mein Großvater starb, als ich sechs war, meine Oma vier Jahre später. An sie erinnere ich mich hauptsächlich. Mit über achtzig Jahren unterrichtete sie noch Klavierschüler. Die sonst zittrigen Finger wurden ruhig, wenn sie sich auf die Tasten legen. Dann begannen sie zu tanzen. Ich sah staunend zu.

Der Krieg gehörte immer den anderen

Der Krieg war in ihrer kleinen Zweizimmerwohnung höchstens eine abstrakte Sache. Abzeichen, die mein Großvater während seines Dienstes erhalten hatte, lagen in einer Büchse zwischen Altpapier und kaputten Kugelschreibern. Sie dienten mir als Spielzeug. Das junge Paar auf den Bildern an der Wand war in meinem Empfinden nicht aus Fleisch und Blut, sondern einem Film entstiegen. Die Uniform meines Großvaters wirkte wie eine Verkleidung.

Als ich ein Teenager war, sollten wir im Zuge des Geschichtsunterrichts an der Schule mit Zeitzeugen sprechen. Die Vorgabe war, dass es sich möglichst um nahe Verwandte handelte. Als wir dann die Ergebnisse vorstellten, war ich zugegebenermaßen erstaunt. Zwanzig Geschichten über Widerständige, Unbehelligte oder ganz und gar Unbeteiligte. Das schien mir sogar für die Schweiz, in der ich damals aufwuchs, und die sich noch immer in großer Distanz zum Zweiten Weltkrieg positioniert, ein statistisch unwahrscheinliches Ergebnis zu sein. Ich vermisste die Worte derer, die agiert hatten. Der Krieg gehörte offenbar immer den anderen. Es gab die Monster, und es gab die, die ihre Taten erdulden mussten. Dazwischen war nur Schweigen. 

Ich weiß wenig über die Rolle meines Großvaters im Krieg. Es gibt ein paar Fakten. Der Rest ist Interpretation. Er war Flieger. Eines seiner Kinder ist körperlich behindert zur Welt gekommen. Alleine schon diese beiden Tatsachen nebeneinander zu stellen, bereitet mir Kopfzerbrechen, weil ich nicht begreifen kann, was sie damals bedeutet haben und wo sich ihre Folgen bis heute niederschlagen.

Verdrängung gilt nicht umsonst als Teil des Überlebensinstinkts

Es ist schwer, Familienmitglieder dazu zu bringen, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Ob ich viel Wahres erfahren würde, wenn ich heute tatsächlich mit meinem Opa sprechen könnte, ist fraglich. Vielleicht würde er gar nichts sagen und mir meinen liebsten Zaubertrick vorführen. Vielleicht würde er wie meine Großmutter traurig werden und seine Tränen reden lassen.

Aber selbst wenn er für sein Empfinden völlig wahrheitsgetreu erzählen würde, könnte ich nicht herausfiltern, was er für sich selbst entschieden hatte zu glauben und was tatsächlich passiert war. Der Verdrängungsmechanismus gilt nicht umsonst als Teil des Überlebensinstinkts. Er lässt uns von Dingen überzeugt sein, die nie passiert sind. Er formt unsere Geschichte neu, damit wir mit uns selbst leben können.

Erinnerung und Wahrnehmung funktionieren selektiv. Menschen bewegen sich durch parallele Realitäten. Das gibt es nicht erst seit dem Schwarm an Fake-News. So gesehen wundere ich mich auch nicht mehr über die zwanzig Geschichten relativer Unschuld an meinem Gymnasium. Scham, Angst und der Wunsch, die Vergangenheit umzudeuten, haben bestimmt an mehr als nur einer gedreht.

Ausgerechnet jetzt stirbt diese Generation aus. Viele nehmen das, was sie getan haben und das, was sie ertragen mussten, mit sich mit. Nie erzählt verschwinden ihre Geschichten. Trotzdem sind sie passiert. Wir finden sie auch in unseren Eltern wieder, die nach dem Krieg geboren wurden. Wir finden sie in uns, die ein geschichtliches Erbe mit sich herumtragen.

Irgendwann sind wir auf der anderen Seite des Tisches

Das Einsetzen für Frieden kann auch mit dem Blick zurück beginnen. Die Frage an die Eltern und Großeltern: Wer wart ihr? Was hat der Krieg mit euch gemacht? Das Schweigen wird mit dafür verantwortlich gewesen sein, dass er auch lange nach seinem Ende nicht vorbei war und es heute vielleicht noch immer nicht ist.

Etwas vom Wichtigsten, was uns unsere Großeltern, unsere Mütter und Väter mitgegeben haben, sind schließlich auch sie selbst als ein Teil von uns. Ihr Schweigen tragen wir zwangsläufig mit. Ihre Traumata sind unsere Traumata. Um zu wissen, wo wir uns befinden, braucht es auch das Wissen, woher wir kommen.

So gesehen gehört unser Handeln heute nicht nur uns allein. Wir haben auch die Verantwortung für die kommenden Generationen. Irgendwann sind wir auf der anderen Seite des Tisches. Mit welchen Fragen werden unsere Kinder, Enkel, Nichten und Neffen dann an uns treten?
 
Yael Inokai, 28, arbeitet neben ihrem Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin als Fremdenführerin und freie Autorin in den Bereichen Prosa, Drehbuch und Hörspiel. Ihr Debütroman "Storchenbiss" erschien im Rotpunktverlag.

 

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