10 nach 8: Caroline Kraft über die Kinderfrage

 
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01.03.2019
 
 
 
 
10 nach 8


Für wen leben, wenn nicht für Kinder?
 
Die Frage, ob man Nachwuchs will, wiegt schwer. Es ist aber weniger eine biologische Entscheidung als eine soziale: Es geht um ein Leben in Gemeinschaft.
VON CAROLINE KRAFT

Familie muss nicht biologisch sein. Je früher man sich eine soziale Gemeinschaft sucht, desto besser. © Kevin Delvecchio/unsplash.com
 
Familie muss nicht biologisch sein. Je früher man sich eine soziale Gemeinschaft sucht, desto besser. © Kevin Delvecchio/unsplash.com
 
 

An Silvester stehe ich auf der Straße, irgendwo zwischen Berlin und Brandenburg, vor einem Einfamilienhaus. Es ist null Uhr, um mich herum fallen sich große und kleine Menschen in die Arme, küssen sich und flüstern einander Liebesbekundungen ins Ohr. Ich stehe mittendrin, rauche eine Zigarette und schaue in den Himmel, der vom Feuerwerk hell erleuchtet wird. In meiner Tasche steckt ein Zettel, auf dem ich ein paar Stunden zuvor meine Gedanken zum Jahreswechsel notiert habe. Einer der Sätze, die zum alten Jahr gehören, lautet: "Ich glaube, ich bin glücklich." Bei den Wünschen fürs neue Jahr steht "schreiben", "neue Band gründen", "körperliche Arbeit" und "Zeit haben" – der Wunsch, ein Kind zu bekommen, findet sich darunter nicht. Und doch stelle ich mir hier, in dieser Situation, zwischen all den kleinen Inseln aus dicht aneinander gedrängten Paaren und ihren Kindern, unweigerlich die Frage, ob diese Leute irgendetwas richtig gemacht haben, was ich völlig falsch mache.

Die Wissenschaft unterscheidet bei kinderlosen Frauen zwischen Frühentscheiderinnen, Spätentscheiderinnen und Aufschieberinnen. Während die Frühentscheiderinnen bereits wissen, dass sie keine Kinder wollen, bevor sie 30 werden, fällt die Entscheidung gegen Kinder bei den Spätentscheiderinnen ab Mitte 30. Die Aufschieberinnen treffen keine explizite Entscheidung gegen Kinder, sondern bleiben aufgrund der äußeren Umstände kinderlos. Sowohl für die Spätentscheiderinnen als auch für die Aufschieberinnen war es zu einem früheren Zeitpunkt im Leben eine Option, Kinder zu kriegen.

Für mich war Kinderkriegen nicht nur eine Option. Es war, bis ich 30 wurde, Teil des Plans. Mir erschien es selbstverständlich, ohne dass ich es jemals hinterfragt hätte; es gehörte für mich dazu, genauso wie heiraten, sich einen guten Job zu suchen, kontinuierlich auf der Karriereleiter nach oben zu klettern und sich die größtmögliche finanzielle Sicherheit aufzubauen. Ich richtete mein Leben nach diesen vermeintlichen Überzeugungen aus – nur dass sich alles völlig falsch anfühlte. So, als lebte ich das Leben einer anderen Person.

Dann begann ein kleiner Dominostein nach dem anderen zu fallen. Heiraten schien mir als Erstes kein gangbarer Weg mehr zu sein, zumal meine Vorstellungen davon, wie und mit wem ich eine Partnerschaft führen wollte, sich relativ weit von den Kategorien entfernten, mit denen ich aufgewachsen war. In den Jahren danach wurde mir immer klarer, dass mich mein Job unglücklich machte. Ich ging auf Teilzeit und füllte meine Freizeit mit Dingen, die mir sinnvoll erschienen und mich froh machten. Doch das reichte nicht. Vor vier Jahren habe ich meinen Job ganz an den Nagel gehängt. Heute arbeite ich frei, verdiene das absolut Nötigste, was ich zum Leben brauche, helfe einige Monate im Jahr auf Höfen irgendwo auf der Welt mit, schreibe, mache Musik und bin ehrenamtlich in verschiedenen Bereichen tätig. Ich spüre zum ersten Mal, wie sich Freiheit, wirkliche Freiheit, anfühlt. Von finanzieller Sicherheit bin ich so weit entfernt, wie ich es mir niemals hätte vorstellen können, und fühle mich dabei glücklicher als jemals zuvor.

Der letzte wacklige Dominostein aus meinem alten Leben, der noch steht, ist die Kinderfrage. Und da wird es kompliziert. Wissenschaftlich gesehen pendele ich, sollte ich kinderlos bleiben, irgendwo zwischen Aufschieberin und Spätentscheiderin. Aufgeschoben habe ich die Frage definitiv, aber auch eine Entscheidung getroffen: Ich will Kinder nicht um jeden Preis. Das heißt für mich zum einen, dass ich ein Kind nicht allein großziehen will, und zum anderen, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich dieses neu gefundene Leben, das sich endlich wie mein Leben anfühlt, zugunsten eines Kindes aufgeben möchte. Je länger ich mich mit dem Thema beschäftige, desto besser kann ich mir ein kinderloses Leben vorstellen – und merke, wie sehr in mir, seit ich denken kann, nur ein einziges Bild angelegt war, nämlich das von einem Leben mit Kindern. Dort, wo vorher eine Leerstelle war, entwickelt sich langsam ein zweites Bild und ein Gefühl dafür, dass es bei dieser Entscheidung keinen richtigen oder falschen Weg für mich gibt, sondern nur zwei unterschiedliche Versionen eines Lebens, die beide ihre ganz eigene Qualität haben.

Um an diesen Punkt zu kommen, musste ich an tief sitzenden Überzeugungen rütteln: Dass es bei der Kinderfrage eine richtige und eine falsche Abzweigung gibt, die über Glück und Unglück entscheidet. Dass das größte Unglück darin liegt, den Augenblick verstreichen zu lassen, in dem man diese Entscheidung aktiv treffen kann. Und vor allem: Dass man sich ganz sicher sein muss, keine Kinder zu wollen. "Kinderkriegen wird als so elementar wahrgenommen, dass an allen Ecken und Enden nach Gründen gesucht werden muss, wenn es nicht stattfindet", schreibt Sarah Diehl in ihrem Buch Die Uhr, die nicht tickt. Die Suche nach Gründen – guten Gründen – ist mir vertraut, genauso wie der Druck, eine souveräne Entscheidung treffen zu müssen, die möglichst wenig von den äußeren Umständen beeinflusst ist, sondern aus mir selbst heraus getroffen wird, damit ich sie später nicht bereue.

Viele dieser Überzeugungen sind, das glaube ich heute, nicht nur hinderlich, sondern auch ganz einfach lebensfremd. Glauben wir wirklich, dass das Leben so berechenbar ist? Dass wir immer alles unter Kontrolle haben? Doch wenn es ums Kinderkriegen geht, scheint kein Platz für Uneindeutigkeiten zu sein, und die Zuschreibungen sitzen tief. Derart tief, dass ich hart daran arbeiten muss, mir selbst zu vertrauen. Obwohl ich spüre, wie richtig es sich anfühlt, dieser anderen, potenziellen Version meines Lebens einen Platz einzuräumen, hinterfrage ich dieses Gefühl immer wieder. Kann es sein, dass ich mir meine Situation einfach nur schönrede? "Das Reden über die biologische Uhr ist so allgegenwärtig, dass Frauen sich selbst misstrauen, wenn sie die Uhr nicht ticken hören. Sie zweifeln ihre eigene Entscheidungsfähigkeit an, weil ihnen vermittelt wird, dass sie etwas anderes wollen müssen", schreibt Sarah Diehl.

Wann fangen wir an, Familien größer zu denken?

An jenem Silvesterabend, draußen, auf der Straße, während ich zwischen all den lachenden Familien stehe und nach dem Zettel in meiner Hosentasche taste, wird mir klar, dass es einen Grund gibt, warum es mir so schwerfällt, die Vorstellung von einem Leben mit Kindern aufzugeben: weil die Entscheidung für oder gegen Kinder scheinbar auch eine Entscheidung für oder gegen eine Art der Gemeinschaft ist. Denn wenn ich ehrlich bin, ist es nicht die Kleinfamilie, nach der ich mich sehne, sondern das Gefühl der Zugehörigkeit. Roger Willemsen hat einmal gesagt: "Ich glaube, jedes Leben wird dadurch besser, dass man es auch für andere lebt." Dieser Satz macht mich traurig, und wenn ich länger über ihn nachdenke, werde ich wütend. Denn es kommt mir so vor, als machten wir es uns alle ziemlich leicht.

In meinem Umfeld scheint die Kleinfamilie als Gemeinschaftsform fast alternativlos zu sein. Für mich heißt das: Ich werde bei meinen Freunden immer an zweiter Stelle stehen. Oder besser gesagt, an vierter, fünfter oder sechster Stelle. Wenn mich die Umarmungen und Küsse an Silvester erst um viertel nach zwölf erreichen. Wenn meine engsten Freunde im ersten Jahr nach der Geburt komplett in ihren Familien verschwinden. Wenn meine Freundin eine Verabredung zum vierten Mal in Folge absagt, weil etwas mit dem Kind ist. All die praktischen Schwierigkeiten, mit denen sich junge Familien herumschlagen, die Herausforderungen, die Kinder für eine Paarbeziehung darstellen, und auch das Gefühl der Vereinsamung, das viele meiner Freundinnen in den ersten Jahren nach der Geburt eines Kindes verspüren – die Probleme, die ein klassisches Familienmodell mit sich bringt, sprechen doch dafür, das Konzept der Kernfamilie zu überdenken und neue Modelle zu entwerfen. Modelle, in denen wir unser Leben selbstverständlicher mit unseren Freunden teilen, uns gegenseitig besser unterstützen, mehr Verbindlichkeiten anbieten und einfordern und dafür ein Gefühl der Zugehörigkeit zurückbekommen, das nicht vor den Türen unserer Zwei- bis Vier-Zimmer-Wohnungen endet.

Mit anderen Worten: Ich frage mich, ob das alles wirklich so sein muss, ob Blut letztlich immer dicker als Wasser ist, ob es nicht Formen der Gemeinschaft gibt, abseits der Kernfamilie, die verbindlich sein können und die nicht an besagte Grenze stoßen. Und ob es für Menschen wie mich nicht viel leichter wäre, eine Entscheidung gegen Kinder zu treffen, wenn wir anfangen würden, Familien größer zu denken – indem wir sie als soziales Konstrukt verstehen und nicht als biologisches.

Natürlich gibt es Bestrebungen, in Hausprojekten, queeren Familien und Co-Parenting-Modellen andere Formen des Zusammenlebens und Kindergroßziehens zu verwirklichen, doch sie bleiben die Ausnahme. Denn für einen tatsächlichen gesellschaftlichen Wandel braucht es nicht nur Menschen, die ihn leben, sondern auch Unterstützung aus der Politik. Als einen gelungenen Ansatz führt Sarah Diehl ein Gesetz an, das in Kanada bereits 2014 in Kraft getreten ist: Dort ist es bis zu vier Personen erlaubt, sich als soziale Eltern für ein Kind eintragen zu lassen.

Apropos alternative Modelle: Neuerdings schwärmen viele meiner Freunde von einem gemeinschaftlichen Leben im Alter. Mir gefällt der Gedanke auch, aber warum damit warten, bis wir in Rente gehen? Und ist es nicht eine Illusion, zu glauben, dass wir alle, die wir uns zu alt für WGs halten, die wir um unsere Grenzen und unsere Privatsphäre so besorgt sind, plötzlich im Alter all unsere Schrulligkeiten über Bord werfen und fröhlich zusammenleben? Gemeinschaft erfordert viel Arbeit, Kommunikation und Kompromisse, und vielleicht sollte man mit dem Üben lieber früher als später anfangen.
Um kurz vor halb eins gehe ich von der Straße zurück ins Haus. Eine Freundin sitzt allein im Wohnzimmer und stillt ihr Baby. Ich mixe ihr einen alkoholfreien Cocktail, nehme das Baby in den Arm und schicke sie nach draußen zu ihrem Mann und ihrem Kind. Während ich das Baby in den Schlaf wiege, denke ich, dass Situationen wie diese, sollte ich kinderlos bleiben, immer auch mit Trauer verbunden sein werden, und mit der Frage, wie sich diese andere Version meines Lebens wohl angefühlt hätte. Aber da ist auch ein neues Gefühl: dass das in Ordnung ist, solange das, was ich da tue, sich wie mein Leben anfühlt – und sich immer noch genug Glück in meiner Tasche findet.
 

Caroline Kraft war die vergangenen zehn Jahre in der Verlagsbranche tätig – in London, Frankfurt und Berlin, wo sie heute lebt und als PR- und Kommunikationsberaterin arbeitet. Sie ist ausgebildete Sterbebegleiterin, Mitgründerin des Podcasts "endlich. Wir reden über den Tod" und Gastautorin von "10 nach 8".

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