Fünf vor 8:00: Deutschlands Schwäche macht Angst - Die Morgenkolumne heute von Michael Thumann

 
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FÜNF VOR 8:00
29.03.2019
 
 
 
   
 
Deutschlands Schwäche macht Angst
 
Auch in der Politik halten sich die Deutschen für besonders moralisch und prinzipientreu. Viele Europäerinnen und Europäer aber sehen das ganz anders. Sie haben Gründe.
VON MICHAEL THUMANN
 
   
 
 
   
 
   

Würde man die Europäer fragen, wer die Verteidigung Europas gefährdet, würden viele Deutsche wohl zuerst auf Donald Trump und dann auf Wladimir Putin zeigen. Eine große Zahl von Europäerinnen und Europäern aber würde auf die Deutschen weisen. Die wären davon sicher völlig überrascht: "Wir?"
 
Die Deutschen debattieren munter über Rüstung, Energiewende und darüber, wie Deutschland den Frieden in der Welt retten kann. Aber sie reden ausschließlich mit sich selbst. Dabei übersehen sie, wie andere Europäer die Welt und darin die Deutschen sehen. Aus deutscher Sicht verhalten sich alle anderen wenig moralisch und prinzipientreu – doch viele europäische Länder sehen es genau umgekehrt. Deutschland gilt als unzuverlässiges und oft unmoralisches Land, das Europa aufs Spiel setzt. Warum?
 
Es ist eine simple Zahl, mit der wir die anderen nerven. Vor fünf Jahren hat der damalige SPD-Außenminister Frank-Walter Steinmeier auf einem Nato-Gipfel zugesagt, dass Deutschland sich bis 2024 dem Ziel nähern wird, zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung auszugeben. Das war damals Konsens in Berlin.
 
Schon im vergangenen Jahr hat die Bundesregierung den Verbündeten nur noch 1,5 Prozent zugesagt. Nun kassiert Finanzminister Olaf Scholz (SPD) auch diese Zahl, ohne dass die Kanzlerin ihm in die Parade fährt. In den baltischen Staaten, in Polen, auch in den Niederlanden fragen sich viele, ob man sich auf die Deutschen und ihre Bundeswehr noch verlassen kann. Auf einer hochrangig besetzten Konferenz in Polen sagten mehrere Teilnehmer neulich: "Uns macht nicht die deutsche Stärke, sondern die deutsche Schwäche Angst."
 
Streit mit Frankreich
 
Zu der gehört, dass sich die Deutschen gerade mit Frankreich über Verteidigung und Rüstungsexporte zerstreiten. Den Anlass gibt Saudi-Arabien, der größte Waffenimporteur der Welt. Die Deutschen haben nach dem Mord an dem Regimekritiker Jamal Khashoggi ein komplettes Exportverbot an die im Jemen Krieg führenden arabischen Länder erlassen, auch rückwirkend. Die Franzosen nicht. Aber wegen des deutschen Verbots können sowohl französische wie auch britische Firmen ihre bereits verkauften Waffen nicht mehr liefern. Berlin zwingt Paris und London zum Vertragsbruch. Das treibt die Verbündeten zur Weißglut.
 
Aber haben die Deutschen nicht recht mit ihrer Sichtweise auf Saudi-Arabien? Die SPD will die Saudis auch künftig nicht mehr beliefern und wirft den Franzosen Amoral vor. Die Franzosen ärgert das, sie haben ihren eigenen Blick und der ist strategisch. Sie wollen, dass Saudi-Arabien sich gegen Irans Ausgreifen verteidigen kann, damit das strategische Gleichgewicht am Golf nicht zerstört wird. So wie es zwischen Irak und Iran 2003 passiert ist. Die Saudis sollen nicht im Jemen bombardieren, aber sie sollen sich gegen Iran verteidigen können. Nur dafür liefern wir, sagen die Franzosen.
 
Wie moralisch ist Nord Stream 2?
 
Moral und Strategie verschwimmen auch bei den Deutschen. Viele Europäer finden es extrem unmoralisch, dass deutsche Firmen mit Gazprom eine Pipeline bauen, die um die Ukraine herumführt und sie ihrer Einnahmen beraubt. Die Nord-Stream-2-Pipeline wurde von Gerhard Schröder und Sigmar Gabriel eingefädelt. Das ist ziemlich strategisch von der SPD, aber weniger moralisch. Auch das ließ die Kanzlerin so geschehen.
 
Jüngst ärgerte sich ein schwedischer Politiker über Berliner Energiepolitik. Die Deutschen ließen erst die CO2-freien Kernkraftwerke abschalten, sagt er. Dann merkten sie, dass sie die Klimaziele nicht einhalten wegen ihrer dreckigen Kohlekraftwerke. Jetzt lassen sie die auch abschalten und wollen mehr russisches Gas kaufen. Zugleich aber bremsen sie bei den EU-Klimazielen, um die eigene Autoindustrie zu schützen.
 
Wo endet die Moral, wo beginnt die Strategie? Und was ist nur noch Chaos? Die Deutschen geben derzeit einfach keine gute Figur ab. Das liegt auch daran, dass vielen deutschen Politikerinnen und Politikern Sinn und Gespür für Europa fehlen. 
 
Gemeinsame Verteidigung, gemeinsame Rüstungsexportkontrolle, gemeinsame Energiepolitik können nicht funktionieren, wenn einer dem anderen die Moral abspricht. Oder wenn Parteien damit billig Wahlkampf machen. Oder wenn ein Land versucht, seine Maximalpositionen durchzusetzen. Es würde Europa und Deutschland helfen, wenn sich die Deutschen klarmachen würden, wie sie mittlerweile auf die anderen Europäer wirken.

 
   
 
   
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Fünf vor 8:00 ist die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE. An jedem Werktag kommentieren abwechselnd unter anderem Michael Thumann, Theo Sommer, Alice Bota, Matthias Naß, Martin Klingst und Jochen Bittner.