Es ist bedrückend, den Niedergang von Europas ältester Demokratie mit ansehen zu müssen. Zeuge zu werden, wie sich das britische Unterhaus in ein Tollhaus verwandelt. Wie in dem verbissenen Kampf um den Brexit die ruhige Vernunft, der Sinn für das Machbare und die Fähigkeit zum Kompromiss verloren gehen. Das traurige Schauspiel, das die britische Politik in diesen Wochen bietet, fügt nicht nur dem Vereinigten Königreich schweren Schaden zu. Es beschädigt ganz Europa. Zwar hat die Entscheidung der Britinnen und Briten, die Europäische Union zu verlassen, den Rest Europas erst einmal zusammengeschweißt. Die anderen 27 EU-Staaten agieren bis heute erstaunlich einmütig. Und in vielen Ländern, auch in Deutschland, ist die Zustimmung zur EU gewachsen. Aber je wirrer und hässlicher die Debatte in London wird, umso schneller wird die Stimmung umschlagen. Man stelle sich nur vor: Wird der Brexit über den 30. Juni hinaus verschoben, dann werden die Briten an der Europawahl Ende Mai teilnehmen müssen. Welche Absurdität! Wir wählen mit den Briten ein Parlament, in dem mehr als die Hälfte von ihnen nicht vertreten sein möchte. Ohnehin ist damit zu rechnen, dass die Europaskeptiker von der AfD bis zur italienischen Lega bei dieser Wahl besser abschneiden werden als je zuvor. Durch den britischen Irrsinn wird die Abstimmung zu einem "surrealen Unterfangen", wie Roger Cohen in der New York Times schrieb. Die Brexit-Hardliner um Boris Johnson und Jacob Rees-Mogg haben sich in eine Traumwelt verabschiedet, in der die 500 Millionen Menschen im EU-Binnenmarkt weniger zählen als die Hoffnung auf eine "globale Zukunft", in der ihr Land – frei von allen Brüsseler Fesseln – eigene, angeblich viel vorteilhaftere Abkommen mit aller Welt aushandelt. "Selbsttäuschung ist die Mutter der Katastrophe", schreibt dazu Roger Cohen. Hauptschuldiger an der ganzen Misere bleibt Ex-Premier David Cameron. Er setzte darauf, seine europafeindlichen Gegner bei den Tories mit dem Brexit-Referendum zum Verstummen zu bringen. Eine größere Fehlentscheidung hat kein britischer Regierungschef seit dem Zweiten Weltkrieg getroffen.
Aber das Schicksalsjahr 2016 hat uns nicht nur die Volksabstimmung zum Brexit beschert, sondern auch die Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten. Die Wendung der sogenannten Anglosphäre zu Nationalismus und Populismus ist eine Gefahr für die liberale internationale Ordnung, die Großbritannien und die USA einst mit aufgebaut und seither verteidigt haben. Die liberale Ordnung steht ohnehin unter Druck durch autoritäre Regime in Peking und Moskau, in Ankara und Brasília. Niemand fordert diese Ordnung heute wohl mehr heraus als China. Daher ist es zu begrüßen, dass beim Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs in dieser Woche die europäische Chinapolitik auf der Tagesordnung steht. Die Kommission hat dazu ein Grundsatzpapier vorgelegt ("EU-China – A strategic outlook"). Die Herausforderung durch China gründlich zu durchdenken, wäre ein Gipfelgespräch wert. Stattdessen wird es vor allem darum gehen, ob die EU zustimmt, den Brexit zu verschieben. Und das, ohne bisher zu wissen, wie die Briten diesen zeitlichen Aufschub nutzen wollen. In all der Düsternis gibt es einen Lichtblick. Für den sorgt John Bercow, der Sprecher des Unterhauses. Nicht nur ist er gerade mit einer 400 Jahre alten Parlamentsregel der Premierministerin elegant in die Parade gefahren. Mit seinem etwas sonderlichen Gebaren, mit seinem Witz und seinen verzweifelten "Ooorder! Oooorder!"-Rufen ist er rund um den Globus zu einem Politstar aufgestiegen. Die Leute ziehen ihr Smartphone aus der Hosentasche, schauen sich Mr. Speaker an und freuen sich von Herzen. John Bercow ist der Brite, den heute die ganze Welt liebt. Und der uns die Gewissheit gibt, es ist noch nicht alles verloren, was dieses Land so liebenswert macht. |
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