| | Proteste gegen die Inhaftierung von Deniz Yücel © John MacDougall/AFP/Getty Images |
Ich traf Deniz Yücel im Dezember vergangenen Jahres während meiner Gastprofessur in Zürich. Wir waren beide zu einer Podiumsdiskussion zum Thema Türkei eingeladen, er als Journalist, ich als Wissenschaftlerin. Deniz Yücel war direkt aus Istanbul nach Zürich angereist. Ihn zeichnet aus, worum ich ihn an dem Abend sehr beneidete: der unerschütterliche Glaube daran, dass die Dinge gut werden, gepaart mit einer kindlichen Unvoreingenommenheit.
Ich sehe die Dinge pessimistischer, aber hielt mich an diesem Abend mit düsteren Prognosen zurück. Meine Bitte an ihn, nach Deutschland zurückzukehren, da auch für ihn die Situation als Korrespondent in der Türkei immer schwieriger und gefährlicher werde, nahm er wohlwollend zur Kenntnis. Denn die beiden anderen Dinge, die Deniz Yücel auszeichnen, sind sein Ethos als Journalist und seine Liebe zur Türkei. Solche Arbeit erfordert Nähe, Begegnung und Engagement, nicht Distanz.
Deniz Yücel sitzt nun, wie viele andere Journalisten, in einem türkischen Gefängnis. Und die Türkei läuft Gefahr, sich in einen totalitären Staat zu verwandeln. Die administrative und politische Willkür im Ausnahmezustand trifft die Menschen unvorbereitet, und sie trifft jeden. Die offene Demontage der Institutionen- und Rechtssicherheit zerstört das Investitionsklima. Die massenhaften Entlassungen von Beamt_innen und Mitarbeiter_innen im öffentlichen Dienst haben schon jetzt zur Folge, dass die Verwaltung praktisch zum Erliegen kommt.
Feindliche Übernahme des Denkens
Auch die Universitäten sind Leidtragende: Studiengänge, Institute und ganze Fakultäten werden geschlossen, weil Wissenschaftler_innen entlassen wurden. Damit nicht genug: Menschen, die im Rahmen dieser sogenannten Säuberungsaktionen ihre Arbeit verlieren, haben unter den gegenwärtigen Bedingungen und mit Blick auf die Zukunft keine Aussicht auf eine neue Anstellung. Drohungen der Art, dass Wissenschaftler_innen mit ihrer Entlassung und dem Ende ihrer Karriere zu rechnen hätten, wenn sie die politische und gesellschaftliche Situation kritisieren, gab es bereits vor dem Putschversuch vom 15. Juli 2016. Die Lage hatte sich bereits vorletztes Jahr derart zugespitzt, dass Hochschullehrer_innen und Lehrkräfte stets mit Denunziationen durch ihre Studierenden oder Schüler_innen rechnen mussten. Fünfzehn Jahre AKP-Regierung, und zwar bis vor Kurzem eng mit Teilen der Gülen-Bewegung verflochten, haben in den jungen Köpfen und Seelen ihre Spuren hinterlassen.
Gegenwärtig wird die feindliche Übernahme des Denkens durch die Gesinnung fortgesetzt, etwa über die Revision der Curricula: Naturwissenschaftliche Fächer oder das Fach Philosophie werden zugunsten religiös ausgerichteter Fächer in ihrer Stundenanzahl beschnitten. Fächer wie Moral und Ethik werden zu Vehikeln des totalisierten Gesellschafts- sowie Menschenbildes. Sowohl der Republikanismus als auch der Laizismus sind zwar in der Präambel der türkischen Verfassung festgeschrieben, aber beide Bestandteile des türkischen Staatsverständnisses werden zugunsten eines autoritär und politisch islamistischen Staatsentwurfs verdrängt, und das unter völligem Verzicht auf einen erkennbaren theologischen Diskurs. Obwohl es Anknüpfungspunkte für islamische Theologie als kritisches Korrektiv aus den Erfahrungen der Transformationsgesellschaften nach dem Arabischen Frühling genügend gäbe.
Umkodierung staatsbürgerlicher Identitäten
Die gegenwärtige Entwicklung in der Türkei lässt sich freilich nur mit Blick auf die Geschichte seit ihrer Gründung im Jahr 1923 verstehen. Bei näherer Betrachtung stellt sich nämlich die Frage, inwieweit es sich beim Dekretismus zwischen Autorität, Seniorität und der Latenz des Beleidigtseins nicht doch um ein Problem handelt, das eine strukturell tiefere Ursache hat. Der moderne türkische Nationalstaat scheint per se in einem autoritativen politischen Selbstverständnis zu wurzeln.
Zumindest eine psychologische Erklärung wäre hier schnell gefunden: In Mentalität und Gebaren der heutigen Türkei zeigt sich ein frustrierter imperialer Habitus ohne Imperium. Immerhin stellten die rabiaten politischen Umwälzungen der schulischen und akademischen Curricula auch nach der Gründung der Republik Türkei im Jahr 1923 drastische Umkodierungen der staatsbürgerlichen Identitäten dar. Die Geschichte des Osmanischen Reichs sollte für immer aus den Schulbüchern und aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht werden. Stattdessen trat der moderne Nationalismus auf den Plan, gepaart mit einer zwanghaft modernisierten Form der türkischen Sprache. Insofern ließe sich einfach feststellen, dass der gegenwärtige osmanische Revivalismus auch ein gutes Maß an Romantik bedient.
Trauma der Todesstrafe
Wenn das nur nicht so gefährlich wäre. Wie diese Propaganda aus dem Ruder läuft, konnte jeder sehen, der kurz nach dem gescheiterten Putschversuch ein Flugzeug der Turkish Airlines betrat. Auf den Sitzen lag eine 88-seitige Hochglanzausgabe des Magazins Anadolu Agency mit dem Titel Democracy Triumphs In Turkey. July 15, 2016. FETO’s Coup Attempt in Turkey. A Timeline aus. Mit "FETO" sind Fethullah-Gülen-Anhänger_innen gemeint, die seit dieser Nacht als Terroristen bezeichnet werden. Im englischsprachigen Artikel wird die Timeline des Putschversuchs in minutiöser Genauigkeit entlang durch Fotos illustriert und kommentiert. Aufschlussreich ist dabei, dass Gülen-Anhänger in Armee und politischer Exekutive als die Urheber und Aktivisten des Putschversuchs bereits ausgemacht waren – und dies nur drei Wochen nach dem Ereignis. Die Fotos mäandern zwischen Pro-Erdoğan-Demonstrationen und Verhaftungen der gar nicht mehr mutmaßlichen Täter. Der türkische Staatspräsident wird in diesem Magazin als Retter der Nation inszeniert.
Um hier kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Dass der Putsch gescheitert ist, ist gut. Viel zu oft waren die Menschen in der Türkei von der gewaltsamen Übernahme der Regierungsgeschäfte betroffen. Dennoch belegt der Umgang mit den Folgen des Putschversuchs, wie stark Rechtsstaatlichkeit und Demokratie und die damit verbundenen Freiheitsrechte, allen voran die Freiheit der Presse, schon in der zurückliegenden Dekade erodiert wurden – und wie naiv die europäische Wahrnehmung der Lage mal wieder ist: Nicht einen einzigen der Angeklagten erwartet ein rechtsstaatliches Verfahren. In der Nacht nach dem Putschversuch wurden die ersten öffentlichen Rufe nach der Wiedereinführung der Todesstrafe laut.
Der Staatspräsident kommentierte den Tabubruch mit der bekannten Lakonie: Wenn das Volk die Todesstrafe möchte, dann bekommt es die Todesstrafe. Das Trauma, das die Todesstrafe im kollektiven Bewusstsein der türkischen Bevölkerung hinterlassen hat, gerät in diesen nationalistischen Arrangements in Vergessenheit. Erinnert sei hier an die Erhängung des populären Ministerpräsidenten Adnan Menderes im Jahr 1961 und an den jungen Deniz Gezmiş, der im Mai 1972 im Alter von 25 Jahren hingerichtet wurde, weil er sich dem Kommunismus und dem Sozialismus verschrieben hatte und sich als linker Aktivist politisch betätigte.
Machismo und Feminizid
Am 16. April wird in der Türkei das Referendum über die Einführung des Präsidialsystems stattfinden. Nach wie vor besteht in großen Teilen der Bevölkerung die Hoffnung, dass die Ausstattung des präsidialen Amts mit einer derart großen Machtfülle abgewendet werden kann. Viele Menschen in der Türkei, und zwar querbeet durch religiös affine und indifferente Schichten, halten an der Gültigkeit und an der regulativen Funktion der türkischen Verfassung fest. Kritiker_innen aller Couleur weisen unermüdlich darauf hin, dass bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum belastbare Informationen über das neue System vorliegen.
Fällt die Abstimmung positiv aus, ist die letzte Hürde für die Entmachtung des Parlaments genommen, und die autoritären Tendenzen werden sich durchgesetzt haben. Falls sich die rasanten aktuellen Entwicklungen ungehindert fortsetzen, sehe ich folgende Szenarien vor mir: In der Türkei werden neue Gefängnisse in militärisch kontrollierten Gebieten entstehen, die als "Umerziehungslager" fungieren. Die wirtschaftlich schlechte Lage wird sich dramatisch zuspitzen. Immer mehr Menschen werden in die Arbeitslosigkeit gedrängt werden und der Staat wird kein soziales Netz bieten, das sie auffangen könnte. Der völkisch orientierte Nationalismus wird auf der Straße ausgetragen werden, sodass es zu vermehrter Gewalt kommen wird. Der Machismo wird zunehmen und der ohnehin schon weit verbreitete Feminizid in der Türkei wird neue Ausmaße erreichen.
Die Berliner Akademie der Künste zeigte bereits im Jahr 2000 eine Ausstellung namens Haymatloz. Sie erinnerte daran, dass in den Jahren 1933-1945 viele vom Nationalsozialismus verfolgte Deutsche Exil in der Türkei fanden. Der damals junge türkische Staat warb Intellektuelle aus Deutschland an. Die Exilant_innen aus Deutschland waren auf Grund ihrer fachlichen Kenntnisse für den Aufbau der Türkei gefragt, bevor viele von ihnen in die USA auswanderten. Ich gehe davon aus, dass Deutschland und Europa noch eine unbekannte und neue Zahl von "Haymatlozen" erwartet. Dieses Mal aber aus umgekehrter Richtung. Zurück werden diejenigen bleiben, die es sich nicht leisten können, ihr Land zu verlassen.
Die Politikwissenschaftlerin und Religionspädagogin Meltem Kulaçatan lehrt und forscht am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Im Wintersemester 2016/2017 war sie Gastprofessorin für Islamische Bildung an der Universität Zürich. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8". Sie wollen der Diskussion unter dem Text folgen? Hier geht es zum Kommentarbereich. |
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