Hörsaal mit Fritten Ein Geflüchteter hält eine Vorlesung über Stadtforschung in einer Fast-Food-Filiale? Besuch bei der McDonald's Radio University in Frankfurt VON ESTHER BOLDT |
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 | | Vorlesungen zwischen Pommes und Burger: Die McDonald's Radio University © Masahiro_Hasunuma |
Als ich die Tür aufstoße, spüre ich leichte Unsicherheit. Ich komme selten her, schon gar nicht, um Kunst zu konsumieren. Neben Drinks und Burgern erhalte ich am McDonald's-Tresen ein kleines Radio mit Kopfhörern. In sieben Frankfurter Filialen der Fast-Food-Kette ist gerade die McDonald's Radio University (MRU) eingezogen, ein Projekt des japanischen Theaterregisseurs Akira Takayama.
Das Lokal ist gerammelt voll. Ich finde mit Mühe einen Platz, setze die Kopfhörer auf, ziehe die Antenne raus und stelle die Frequenz auf 88,6. Denn gleich wird irgendwo im Lokal ein Geflüchteter einen Vortrag zum Thema Urban Research (Stadtforschung) halten, den ich per Radio mithören kann. Keine Werbung weist darauf hin. Keine Plakate, keine Flyer, nichts. Entweder hat man das Projekt über den Veranstalter Mousonturm entdeckt, oder man ist zufällig hier reingestolpert.
Awal macht sich auf seinem Hocker fast unsichtbar, die schwarze Daunenjacke geschlossen, Kapuze in die Stirn gezogen, das Gesicht zwischen den aufgestützten Unterarmen verborgen. Es wirkt wie eine geübte Körperhaltung. Die Perspektive, unter der er den Stadtraum ins Visier nimmt, ist die eines "Illegalen" und Obdachlosen, der unablässig damit befasst ist, nach Unterschlupf- und Rastmöglichkeiten zu suchen. Nach Orten, an denen er temporär geduldet wird, sitzen darf, seine Beine ausstrecken, vielleicht sogar ein Nickerchen halten – ohne sich von der Polizei erwischen zu lassen. Denn dann droht die Abschiebung.
"I am hiding to stay", sagt der junge Mann aus Burkina Faso. Die temporären Unterschlüpfe können Schnellrestaurants sein, aber auch Parks, Bars und Clubs: Einer seiner Freunde freue sich stets aufs Wochenende, erzählt Awal, weil er dann für ein paar Euro Eintritt einen Club besuchen könne und dort einige Stunden schlafen, der lauten Musik zum Trotz. Eine Viertelstunde lang führt Awal seine Hörer*innen ein in die Überlebensstrategien eines obdachlosen, "illegalen" Migranten, in Verhaltenscodices und Techniken zum Auskundschaften sicherer Orte.
In den letzten Jahren haben Projekte mit Geflüchteten im deutschen Theater sprunghaft zugenommen. Wer heute "was mit Flüchtlingen" macht, darf sich der Publikumssympathien sicher sein und sich neben dem Politischen das Soziale auf die künstlerische Visitenkarte schreiben. Die Flüchtlinge bilden dabei häufig eine seltsam gesichtslose, anonyme Masse, die Aufführungen allenfalls mit Relevanz dekoriert, während weiterhin Schauspieler*innen im Vordergrund stehen.
Oft bleiben Geflüchtete dabei ganz Objekt, Körper ohne Sprache. Und wieder werden die bekannten Bilder aus den Medien bestätigt, die höchst fragwürdigen Metaphern von Flüchtlingsströmen und Flüchtlingswellen. Als sei ein einziger gewaltiger Körper unterwegs nach Europa, ein Massemensch.
Die Hochkultur wandert in stickige Burgerbuden
Akira Takayamas Projekt erzählt dagegen an. Nach festem Seminarplan halten 15 Geflüchtete, von denen einige seit Jahren mit ihm arbeiten, Vorträge zu selbst gewählten Themen in den McDonald's-Filialen. Die Hochkultur wandert ab in stickige Burgerbuden mit Plastikmobiliar, und der Wissenstransfer ist hier nicht mehr Privileg derjenigen, die sonst Diskurshoheit haben, sondern Angelegenheit jener, die in Deutschland allenfalls geduldet werden – wenn sie nicht gar illegal hier leben wie Awal.
Hinter einer Säule verborgen hat Akira Takayama dem Vortrag gelauscht. Ich frage ihn, warum alle seine Professor*innen Geflüchtete seien. Er habe sich dafür interessiert, wer sie sind und wie sie leben, erzählt Takayama schlicht. In seinen Projekten geht er konsequent von eigenen Fragen und Problemen aus: Auch er hat eine Zeitlang die "Gastfreundschaft" der Fast-Food-Kette in Anspruch genommen. Nach seinem Kunstprojekt Sunshine 62 wurde er von der japanischen Mafia bedroht. Er schickte seine Familie aufs Land und tauchte selbst in die Straßen von Tokio ab. Für den Preis eines Kaffees verbrachte er seine Nächte in Schnellrestaurants oder Internetcafés und traf dort auf die Obdachlosen und Abgehängten der hochbeschleunigten japanischen Gesellschaft.
Auch die MRU bewirbt weniger ihren Veranstaltungsort, sondern zeigt Wieder-Aneignungen des durchkommerzialisierten, privatisierten Stadtraums auf und verdeutlicht, wie er auch genutzt werden kann: als Kommunikationsort und Treffpunkt, als Waschraum und öffentliche Toilette, als Rastplatz und Zuhause auf Zeit.
Über das Kochen wieder eine Sprache finden
Vor einem anderen McDonald's, an einer Ausfallstraße, steht ein Einkaufswagen mit den Halbseligkeiten eines Wohnsitzlosen. Rita, Investmentbankerin aus Damaskus und seit zwei Jahren in Deutschland, spricht drinnen über ihr Projekt Diaspora Cuisine – Cooking a Home. Sie erzählt von Heimweh, von der Suche nach vertrauten Düften und Geschmäckern, von der kostbaren Tüte mit der selbst gemachten Gewürzmischung ihrer Mutter, die sie aus Syrien mitbrachte. Auch von der Absurdität, in einer Fast-Food-Kette, die Geschmack international standardisiert, über die Finessen der syrischen Küche zu sprechen.
In Ritas Onlinenetzwerk Diaspora Cuisine tauschen mittlerweile über 8.000 syrische Auswanderer*innen und Geflüchtete in aller Welt Rezepte aus. Viele von ihnen hätten dadurch erstmals wieder begonnen, miteinander zu sprechen.
Die Vorträge in Fast-Food-Umgebung machen auch mich zur Fremden. Ich bewege mich an fremden Orten, studiere ihre Regeln, um nicht, oder zumindest weniger, aufzufallen. Um Camouflage zu betreiben, müsste ich mein Tablett mit Speisen und Getränken beladen, das Radio im Schoß verbergen, das Notizbuch in der Tasche lassen. Doch die Kunst des Untertauchens ist mir fremd. Es ist die große Stärke des Projektes, dass ich es mir nicht in meinem vertrauten Theatersessel bequem machen darf, während mir vom Elend der Welt berichtet wird.
Rita und ich fahren mit der Straßenbahn zum nächsten Vortrag am Frankfurter Südbahnhof. Sie sagt, Takayamas Projekt gebe ihr ein Gefühl von Wertschätzung. Zurzeit versucht sie, einen Cateringservice ins Leben zu rufen, betrieben von geflüchteten syrischen Frauen.
Keine Feelgood-Sozialarbeit
Mein Nachmittag bei McDonald's hat vieles, was ich zu wissen glaubte, gründlich infrage gestellt. Er hat meine Privilegien ebenso erfahrbar gemacht wie die Grenzen dessen, was ich zu kennen glaubte. Und Takayama will noch weiter. Bis 2018 soll ein European thinkbelt die Balkanroute entlangführen, über Fast-Food-Filialen in Wien, Budapest, Belgrad und Skopje bis nach Athen.
Etwas größenwahnsinnig, vielleicht. Doch die Arbeit dieses stillen, sorgfältigen Künstlers scheint die Feelgood-Sozialarbeit mancher anderer Kulturschaffender auszuhebeln.
Esther Boldt ist Theaterwissenschaftlerin und schreibt als freie Autorin, Tanz- und Theaterkritikerin für Medien wie "Theater heute", "taz" und "Nachtkritik". Ein Sammelband über Kritik in der Darstellenden Kunst mit Beiträgen von ihr ist vergangenes Jahr im Alexander Verlag Berlin erschienen. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".
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