Fünf vor 8:00: Wo Europa am zerbrechlichsten ist - Die Morgenkolumne heute von Ulrich Ladurner

 
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 FÜNF VOR 8:00
02.02.2017
 
 
 
 


 
Wo Europa am zerbrechlichsten ist
 
Es gehört zu den Lebenslügen der EU, zu glauben, der Balkan könne ihr nicht verloren gehen. Doch daran arbeiten gerade einige Länder. Europa macht es sich zu bequem.
VON ULRICH LADURNER

Ich möchte eine Wette abschließen. Auf diesen Kommentar hin wird es mindestens eine Leserzuschrift geben, die folgendes Zitat enthält: "Der Balkan ist mir nicht die gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Grenadiers wert." Reichskanzler Otto von Bismarck sagte dies auf der Berliner Balkan-Konferenz des Jahres 1878. Ist also schon lange her, den Deutschen aber ist der Satz bis heute geläufig geblieben. Er kommt ihnen leicht über die Lippen. Denn hinter der Autorität Bismarcks können sie ihre eigene Bequemlichkeit leicht verbergen.

Balkan? Bitte nicht! Wir haben doch schon Trump und den Brexit, die Flüchtlinge und die Populisten. Es reicht!

Nun, es reicht nicht. Der Balkan gehört auf die Tagesordnung der Europäischen Union, und zwar weit nach oben. Das mag jetzt etwas seltsam klingen angesichts der Tatsache, dass ein wütender, unberechenbarer Mann das mächtigste Amt der Welt bekleidet, der es vermutlich darauf angelegt hat, die Europäische Union zu zerlegen. Doch wenn Europas Welt zerbricht, tut sie es dort, wo sie bereits äußerst fragil ist, und wo mächtige Kräfte von außen auf sie einwirken. Das ist auf dem Balkan der Fall.

Vor mehr als 25 Jahren wurde dort der letzte einer Reihe von Kriegen ausgefochten. Die Nato bombardierte Jugoslawien mit deutscher Beteiligung. Seitdem schweigen die Waffen. Es begann in der Region das lange Warten auf eine Mitgliedschaft in der EU. Kroatien und Slowenien haben es geschafft. Serbien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Mazedonien, das Kosovo und Albanien stehen in der Schlange. Nach vielen Jahren des Wartens werden ihnen langsam die Beine müde. Da das Ziel in immer weitere Ferne rückt, breitet sich zunehmend Unruhe aus. Viele beginnen sich zu fragen, ob sie denn nicht woanders hingehen sollten, vielleicht gibt es ja bessere Möglichkeiten als die EU. An Angeboten fehlt es nicht. Wladimir Putin aus Moskau lockt nach Kräften, Recep Tayyip Erdoğan aus der Türkei ebenfalls, und die extremistischen Islamisten aus den Golfstaaten, die in Europa gern einen Fuß in der Tür hätten, pumpen kräftig Geld in die Region.

Es gehört zu den Lebenslügen der Europäischen Union, zu glauben, der Balkan könne ihr nicht verloren gehen, weil diese Staaten keine Alternative zur Mitgliedschaft in der EU hätten. Die Alternativen mögen schrecklich sein, aber sie sind da, und sie gewinnen an Attraktivität.

Die Nationalisten des Balkans testen angesichts der Schwäche der EU schon mal aus, wie weit sie gehen können. Am 14. Januar fuhr ein Zug von Belgrad in den Kosovo. Das Ziel war die serbische Stadt Mitrovica. Der Zug war mit Ikonen und Motiven der orthodoxen Klöster des Kosovos ausgeschmückt. Er trug die in mehreren Sprachen angebrachte Aufschrift "Kosovo ist Serbien". Die Albaner des Kosovos konnten das nur als Provokation empfinden. Der Präsident des Kosovos schickte dem Zug Grenzschützer mit gepanzerten Fahrzeugen entgegen, bewaffnete Serben des Kosovos machten sich auf zur Grenzstation. Die serbische Regierung stoppte den Zug im letzten Moment. Wäre das nicht geschehen, es wäre zum gewaltsamen Konflikt gekommen.

Und wer soll so etwas eigentlich verhindern können? Die paar Tausend Soldaten der multinationalen KFor-Mission? Das kann man sich derzeit kaum vorstellen. Selbst wenn sie militärisch dazu in der Lage wären, es fehlt ihnen die entschlossene Führung. Es fehlt der politische Wille der Europäischen Union. Niemand glaubt, dass sie entschieden dazwischengehen würde. Sie scheut den Konflikt. Das gilt für die schleichende Abspaltung der Teilrepublik Republika Srpska von Bosnien-Herzegowina, das gilt für den gefährlichen Stillstand in Mazedonien, das gilt für Montenegro und seinen undurchsichtigen Kampf zwischen prorussischen Serben und prowestlichen Montenegrinern.

Nicht Amerika, nicht Russland und nicht die Türkei – die Europäische Union ist die Ordnungsmacht auf dem Balkan. Ob sie es will oder nicht. Die EU muss diese Rolle ausfüllen, sonst nimmt sie in der Region niemand mehr ernst. Sonst öffnen sich die Einfallstore für Putin, Erdoğan, die Golfstaaten und nun auch für Trump wie von selbst.

Die EU kann nicht mit einem schnellen Beitritt werben. Das wäre unrealistisch. Noch mehr, es wäre gefährlich. Wer in dieser Krise der EU jetzt mehr Erweiterung und mehr Integration fordert, der ist ideologisch verblendet. Der sieht nicht, dass er damit die Anti-EU-Kräfte stärkt, weil er die Europäer überfordert. Es geht um Konsolidierung. Es geht darum, die EU wetterfest zu machen. Dazu gehört, den Balkan zu sichern.

Die Union muss den Menschen dort deutlich sagen: Ihr gehört zu uns, und wir tun alles, was uns möglich ist, damit ihr ein besseres, sichereres, wohlhabenderes Leben haben werdet. An die Adresse Putins, Trumps, Erdoğans, der Golfstaaten muss die Botschaft gehen: Diese Region geben wir nicht auf. Denn sie ist ein zentraler Teil Europas.


 
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