Fünf vor 8:00: Kein Wille zum Frieden - Die Morgenkolumne heute von Alice Bota

 
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 FÜNF VOR 8:00
03.02.2017
 
 
 
 


 
Kein Wille zum Frieden
 
Das Minsker Abkommen soll die eskalierende Gewalt in der Ostukraine stoppen. Warum funktioniert es nicht? 
VON ALICE BOTA

Die Bilanz zum zweiten Jahrestag des Minsker Abkommen, das die Waffenruhe in der Ukraine sichern soll: So viele Explosionen wie nie zuvor zählt die OSZE in der Donezker Region. Die Opferzahlen steigen wieder. Das "ganze durch das Minsker Abkommen verbotene Waffenarsenal" werde aufgefahren, wie es Alexander Hug, Vize-Leiter der OSZE-Beobachtermission sagt: Gradraketen, Mehrfachraketenwerfer, Mörsergranaten aller Kaliber, und zwar auf beiden Seiten.

Während Hug diese Worte spricht, ist er gerade auf dem Rückweg aus Awdijiwka, einer Industriestadt im Nordosten von Donezk, die unter ukrainischer Kontrolle steht. Er wirkt aufgekratzt, die Einschläge in der Industriegegend der Stadt seien Ohren betäubend gewesen, das Leid der Zivilisten sei unerträglich: Kein Strom, kein Wasser, ausgekühlte Wohnungen, die dank des Heißwassers aus der Kokerei eine Zimmertemperatur von 15 Grad haben – noch. Draußen herrscht furchtbare Kälte. Den dritten Winter schon erträgt die Bevölkerung auf beiden Seiten der Front diesen Krieg, manchmal mit einer makabren Gelassenheit.

Beide Seiten beschuldigen sich, wie immer

Seit dem im Februar 2015 mühsam in Minsk vereinbarten Abkommen, das die Gewalt in der Ostukraine stoppen sollte (vor allem die Gefechte um Debalzewe), hat es keine solche Eskalation mehr gegeben. Beide Seiten beschuldigen sich gegenseitig, natürlich. So läuft es jedes Mal, und nie hat Russland etwas damit zu tun. Doch wie konnte es dazu kommen? Wer trägt die Verantwortung?

Es ist ein eisiger Januartag, als die OSZE-Beobachter gemeinsam mit Alexander Hug durch die Städte und Dörfer in der Ostukraine fahren, die unter Kontrolle der ukrainischen Armee stehen. Hug führt an diesem Tag unzählige Gespräche: mit Direktoren, mit Schülern und Studenten. Er wiederholt sich. Er hat ein Anliegen.

"Wenn sie es wollen, dann geht es"

Eine Studentin fragt, ob der Konflikt bald eskalieren werde. Hug antwortet, dass die Lage instabil und hochangespannt sei. 20 Kilometer entfernt, in einer Schule nahe der Front, fragt die elfjährige Katja, wann der Krieg endlich aufhöre. Hug antwortet wie man einem Kind antwortet, ohne lügen zu wollen: "Die, die dieses Abkommen unterzeichnet haben, sind dafür verantwortlich, dass die Explosionen, die ihr jede Nacht hört, aufhören. Es sollen zum Beispiel keine Panzer, keine Haubitzen, keine Mörser in der Nähe der Kontaktlinie sein. Wenn ihr die also seht, dann wisst ihr, dass diese Leute ihr Versprechen gebrochen haben."

Und dann erinnert er an den vergangenen September, als die Schule wieder begann, man sich auf eine Waffenruhe verständigte und plötzlich Stille herrschte. Von einem Tag auf den anderen fiel kein Schuss. "Ihr seht also", sagt Hug zu den Kindern, "wenn sie es wollen, dann geht es." Hug will klarmachen, dass es möglich ist, diese fragile Situation zu entspannen. Wenn es den politischen Willen dazu gibt.

Es kreisen viele Spekulationen darum, warum das Abkommen ausgerechnet jetzt wieder zusammenbricht. Jene, die die Ukraine in der Schuld sehen, behaupten: Die Ukrainer wollen um jeden Preis den Krieg zurück in die Schlagzeilen bringen. Der Zeitpunkt dafür sei passend, weil sie erstens keine Priorität für den neuen amerikanischen Präsidenten seien und zweitens seit Anfang Februar den wechselnden Vorsitz des UN-Sicherheitsrates inne haben. Jene, die die von Russland unterstützten Separatisten in der Schuld sehen, meinen hingegen, dass das freundliche Geplänkel zwischen Donald Trump und Wladimir Putin diesen darin bestärkt habe, Fakten zu schaffen – da Russland Kriegspartei ist, ist diese Annahme durchaus nicht abwegig.

Belohnung für Russland: ein Ende der Sanktionen

Aber es gibt noch eine andere Erklärung: Das Abkommen war von Beginn an schwach und wurde nach und nach ausgehöhlt. Niemand wurde auf beiden Seiten des Konflikts für die Verstöße gegen die Waffenruhe, die die OSZE täglich auflistet, zur Rechenschaft gezogen. Niemand musst sich dafür verantworten, dass OSZE-Beobachter an ihrer Arbeit gehindert werden – wie derzeit auf dem Territorium der Separatisten, wo man die Beobachter stundenlang nicht passieren lässt, Zivilisten hingegen schon. Stattdessen winkt eine Belohnung: Permanent wird eine Aufhebung der Sanktionen gegen Russland diskutiert und erwogen, obwohl diese an Fortschritte beim Minsker Prozess gekoppelt sind. Welche Kraft kann ein solches Abkommen da noch haben? Es ist, als hätte man sich längst an diese unschöne Realität in Europa gewöhnt.

Die Eskalation in Awdijiwka kam nicht aus heiterem Himmel. Sie hat sich angekündigt, wie an anderen Orten auch. Reporter haben darüber berichtet, die OSZE hat gewarnt. Seit Monaten wurde in dem Industriegebiet nach Einbruch der Dunkelheit geschossen, testeten beide Seiten einander aus und näherten sich immer mal wieder der Kontaktlinie. Bis sie sich nur noch 50 oder 100 Meter gegenüberstanden. Bis die Lage eskalierte. Diese Situation ließe sich lösen – wenn es den politischen Willen dafür gebe.


 
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