10 nach 8: Azade Pesmen über Vorurteile

 
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01.11.2017
 
 
 
 
10 nach 8


Wie Sie sehen, sehen Sie nichts
 
"Oh, du heißt Azadê, dann muss ich ja 'Merhaba' sagen!" Äh, nein danke. Wir beurteilen Menschen nach dem, was wir glauben, über sie zu wissen. Aber was wissen wir denn?
VON AZADE PESMEN

Menschen widerlegen Vorurteile: zum Beispiel die rappenden Muslimas von Poetic Pilgrimage © PR
 
Menschen widerlegen Vorurteile: zum Beispiel die rappenden Muslimas von Poetic Pilgrimage © PR
 
 

Schubladen sind für Unterwäsche da, nicht für Menschen – sollte man meinen. Und trotzdem sortieren die allermeisten (auch ich) ihre Umwelt und damit auch ihre Menschen danach ein, was sie glauben zu wissen. Für historische Phänomene und Begriffe ist das nicht schlecht, wir können die Ereignisse von Charlottesville analysieren und uns fragen, was sie mit Rostock-Lichtenhagen zu tun haben.

Auch um Machtverhältnisse und ihre Funktionsweisen zu beschreiben, sind Kategorien super. Problematisch sind und bleiben aber die Fremdannahmen, die daraus resultieren.

Der soziale Hintergrund, woher die Eltern, Großeltern, Urgroßeltern kommen, die sexuelle Orientierung oder das zugeschriebene Geschlecht sind nur einige Merkmale, nach denen Menschen fleißig urteilen und annehmen, etwas über eine Person zu wissen. Selbst wenn man die "richtigen" Bezeichnungen einer Kategorie meint, weil eine Person sich selbst zu ihnen zählt, sagt das noch ziemlich wenig über einen Menschen aus. Um ehrlich zu sein: Es sagt absolut gar nichts aus.

Bevor ich missverstanden werde: Fremdannahmen sind manchmal auch nützlicher Natur. Wenn ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite jemanden sehe, der Klamotten einer rechtsextremen Marke trägt, dann werde ich bestimmt nicht freundlich lächelnd "Guten Tag" sagen. Genauso wenig, wie ich einem bewaffneten Menschen in die Arme laufe. Abgesehen von diesen Beispielen sind Fremdannahmen aber trügerisch und unzuverlässig. Sie bieten die Grundlage für alle möglichen Klischees und Vorurteile. Die meisten Fremdannahmen, die über Menschen getroffen werden, die Kategorien, in die sie gesteckt werden, dienen einzig und allein der Befriedigung des eigenen Sicherheitsbedürfnisses und bieten eine vermeintliche Orientierung. Sie bieten den Maßstab, an dem alles gemessen wird. Wenn Julias Eltern ihr verboten haben fernzusehen, dann hatte sie halt Ökoeltern. Wenn ich erzähle, dass ich eine Zeit lang nur zehn Minuten vor dem Bildschirm sitzen durfte, dann höre ich, dass meine Eltern ganz schön progressiv seien (... dafür, dass sie nicht aus Deutschland kommen).

Fremdannahmen werden getroffen, damit man ungefähr weiß, wie man mit dem Gegenüber umzugehen hat bzw. glaubt, mit ihm oder ihr umgehen zu müssen. Das beginnt schon bei der Begrüßung: "Oh, du heißt Azadê, dann muss ich ja 'Merhaba' sagen!" Gut gemeint ist halt in den meisten Fällen komplett ins Fettnäpfchen getreten und führt bei mir eher zu Irritation (Tipp: "Guten Tag" reicht völlig). An meinem Namen (in Kombination mit meiner bezirklichen Herkunft Berlin-Wedding) hängen sich weitere Fremdannahmen auf. Das führt dann unter Umständen dazu, dass Menschen anfangen, mit mir in gebrochenem Deutsch zu sprechen und meinen, darüber eine Verbindung herstellen zu müssen (und vor allem: zu können).

Der angeeignete Möchtegern-Habitus der Subalternen wird meist begleitet von einer merkwürdigen Handbewegung und einem "Yo". Das ist dann wohl das Ergebnis von der allseits bekannten Korrelation der beiden Variablen Wohnviertel und Musikgeschmack. Menschen, die dort wohnen, wo das rassifizierte Arbeitermilieu zu Hause ist, hören nämlich alle Rap und damit einher geht selbstverständlich auch eine bestimmte Gestik und die Übernahme von Codes aus dem Genre Gangster-Rap.

Yo, nein danke.

Sie wissen nichts

Ich will weder jemanden diskreditieren, der gebrochen deutsch spricht, noch jemanden, der Rap-Musik hört, Letzteres tue ich selbst. Aber eine ganze Subkultur zu Unrecht in die Primitivität zu verbannen, ist die nächste störende Fremdannahme und hat absolut nichts mit irgendeinem Erkenntnisinteresse zu tun, sondern bestärkt nur noch bestehende Vorurteile. Es ist im übrigen auf Dauer ziemlich anstrengend, sich die ganze Zeit gegen Fremdannahmen zu wehren, sie zu dekonstruieren und sich ständig davon abzugrenzen. Dazu zwingen einen nämlich falsche Annahmen, die einen selbst treffen, und da sie immer wieder geäußert werden, ist das Gegenüber gezwungenermaßen ständig dabei, das extrem schiefe Konstrukt wieder geradezubiegen. Das führt auch dazu, dass man sich dauernd beweisen muss: Ja, ich kann zwei Plattenspieler gleichzeitig tragen, obwohl du mir als Frau so was absprechen würdest. Ja, ich weiß auch, wie man dieses Equipment anschließt. Ja, mein Deutsch ist gut genug, um damit journalistisch und künstlerisch arbeiten zu können.

Wer sich jetzt beim Lesen aufgrund der eigenen bürgerlich-libertären Sozialisierung und vermeintlich aufgeklärten Bildung davon frei machen möchte: Die beschriebene Erfahrung mache ich in erster Linie mit Akademikern unterschiedlichen Grades. Fremdannahmen gibt es zuhauf, sobald sie aber gespiegelt werden und/oder mit den Erwartungen gebrochen wird, führt das nicht selten zu Enttäuschung, Abwehr oder Verwirrung – nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Denn auf der Gegenseite geht die eigene Rechnung dann nicht mehr auf, sie besteht nämlich aus der einfachen Gleichung: XY ist [Identität einfügen], also ist er oder sie auch [Eigenschaft einfügen]. Auch hier gilt: Gleichungen sind für mathematische Rechnungen da, nicht für menschliche Charaktereigenschaften. Gleichungen ergeben unveränderliche Lösungen, Menschen sind kompliziert(er). Ihre Eigenschaften verändern sich und sind nicht auf Variablen oder Algorithmen zu reduzieren.

Cambridge Analytica hat behauptet, mit Hilfe von Facebook-Daten ganze Psychogramme von Menschen zu entwickeln. Ob das wirklich stimmt, ist mittlerweile umstritten, klar ist aber: Möglich ist es. Dass Algorithmen auf Fremdannahmen beruhen, ist nichts Neues, denn: Auch Technik ist von Menschen gemacht. Wer auf Facebook die Gruppe Wu-Tang Clan gelikt hat, ist definitiv heterosexuell – nach diesem Kriterium sollen Analysten angeblich Menschen in werberelevante Kategorien sortiert haben. Mir ist neu, dass der Musikgeschmack etwas über die sexuelle Orientierung eines Menschen aussagt. Und gerade in diesem Punkt führen Fremdannahmen ins erkenntnislose Nichts – zumindest solange, bis die Person nicht selbst darüber Auskunft gegeben hat, was die wenigsten im Alltag tun dürften.

Warum auch? Schließlich wollen sich die Fragenden in ihrer eigenen stereotypen Sicherheit wiegen und behaupten, dass sie "Bescheid" wüssten. Die Realität ist: Sie wissen gar nichts. Selbst bei einer Person, die sich bis in die hinterletzte Kategorie positioniert, weiß das Gegenüber immer noch herzlich wenig über einen Menschen. Stattdessen könnte man mal einen Versuch wagen: Sich selbst von Fremdannahmen befreien (es zumindest versuchen) und vor allem eines machen: Unsicherheit(en) aushalten und ausnahmsweise mal zugeben, dass man nichts weiß.

Azadê Peşmen arbeitet als Journalistin, unter anderem für Deutschlandfunk Kultur. Sie lebt in Berlin, wo sie als Spoken-Word-Künstlerin auftritt und sich journalistisch und künstlerisch mit urbaner Kultur auseinandersetzt. Aus Sicherheitsgründen achtet sie darauf, dass es keine Bilder von ihr im Netz gibt. Sie ist Gastautorin von ''10 nach 8''.


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