10 nach 8: Anne Hahn über Fußball

 
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06.11.2017
 
 
 
 
10 nach 8


Chronik einer späten Liebe
 
In Magdeburg Mitte der Siebziger erwischte mich der Punk. Von dort war es nicht weit zum Fußball. Heute reise ich zu den Stadien der Welt und treffe meine Großfamilie.
VON ANNE HAHN

Fußballfans in der DDR, Anfang der Siebziger: Szene vom Titelbild des Buches "Stadionpartisanen", das Anne Hahn zusammen mit Frank Willmann verfasst hat. © nofb-shop.de
 
Fußballfans in der DDR, Anfang der Siebziger: Szene vom Titelbild des Buches "Stadionpartisanen", das Anne Hahn zusammen mit Frank Willmann verfasst hat. © nofb-shop.de
 
 

Ein Falke steht hoch oben über dem Berliner Jahnsportpark. Das Geräusch von Trommeln dringt aus dem Mauerpark herüber. Plötzlich ein Schrei aus Hunderten Mündern. Ich werde am Arm herumgerissen, meine Nase landet auf einem schweißnassen Hals. Ein Fremder presst mich an sich. Ich halte die Luft an, mein Herz schlägt wild. Der Mann in weinrotem Shirt lässt endlich los. Wir schielen uns verlegen an. Ringsum donnert Applaus, ein Saxofon jubelt. Fahnen werden geschwenkt. Der Kerl schaut wieder auf seine Mannschaft. Ich blinzele zu dem Falken hinauf.

In meiner Heimatstadt war ich nie beim Fußball. Die besten Zeiten des Clubs, als der 1. FC Magdeburg 1974 den Pokal der Pokalsieger gegen Mailand holte und unsere ganze Stadt feierte, liegen im Nebel meiner Kindheit. Mitte der Achtziger erwischte mich der Punk. Wir waren nur ein paar Dutzend in der Stadt, die aus dem System fielen – Schulversager, Bohemiens, Ausreisewillige, Ex-Knackis, Marktverkäufer. Wir tranken, träumten, tanzten und hatten Ärger. Ich lernte Pokern, 17 und 4 und entdeckte mein Talent für die Geisterbeschwörung. Auf den Fahrten zu Punkkonzerten in Erfurt oder Ost-Berlin sangen meine Freunde von Paule Seguin und dem "Pokoooal". Von Auswärtsspielen des 1. FCM kamen sie mit geklautem Schnaps und ausgeschlagenen Zähnen zurück.

Ein Jahrzehnt später lebte ich in Berlin, hatte ein Studienjahr Kunstgeschichte in Italien absolviert und meinen Lebensgefährten kennen gelernt. Am Anfang unserer Beziehung  erwähnte er Fußball nicht – als unser Sohn zur Welt kam, war es längst zu spät. Da wunderte es mich nicht mehr, dass er mich mit Hexenschuss und Baby zu Hause liegen ließ, um irgendein wichtiges Spiel zu besuchen, ich würde mir schon zu helfen wissen. Wusste ich. Verzieh ihm und begann, mir hin und wieder Spiele anzusehen. Schrieb ein Buch mit ihm über Fußballfans im Osten. Führte ein Interview mit einem ehemaligen Führungsoffizier der Staatssicherheit, der für den Anhang des BFC Dynamo verantwortlich war und von den Fans "Commodore" genannt wurde (weil er sich so viel merken konnte wie ein C64-Heimcomputer). Er redete voller Sympathie über "seine Jungs", erzählte von Auswärtsfahrten, wo den Berlinern von allen Seiten blanker Hass entgegenschlug, einem Polizeieinsatz in Dresden, bei dem er dazwischengegangen war. Wenn es stimmte.

Aber die Akten gab es noch, sie belegten die Gespräche mit Fans. Mich überraschte, wie selten eine Anwerbung gelang. Der "Commodore" meinte dazu: "Erpressbar war jeder, die ham trotzdem nee jesagt." Viele konnten sich rauswinden oder berichteten nur, wie sie betrunken im Gepäcknetz eines Zuges Ankunft und Spiel verpennt hatten. Sie gerieten in Schlägereien, wurden verhaftet. Statt der geforderten Berichte gab es Anrufe von der Transportpolizei.

Ich amüsierte mich, fing Feuer. Ging zu Spielen, sah mir die Fans genauer an. Aus den brüllenden Viechern, die an Zäunen rütteln, wurden allmählich Spaßvögel mit lockeren Fäusten.

Geahndet wurde in der DDR der Klamauk der Fußballfans genauso hart und mit demselben Waffenarsenal wie der Punk. Stadtverbot, Einberufungsbefehl zur Armee, das Nahelegen einer Ausreise in den Westen, Knast wegen Rowdytums. Wir kamen davon, mehr oder weniger gefleddert. Es dauerte, bis ich mich unseren Geschichten stellte. Darüber schrieb. Einen Roman, ein paar Sachbücher.
Magdeburg spielte nun ab und an im Jahnsportpark, meinem Lieblingsstadion. Dort traf ich meine Kumpels wieder. Ich lauschte ihren alten Liedern von Paule Seguin, dem Pokal und Rotterdam. Eines Tages umarmte mich dieser wildfremde Fan der gegnerischen Mannschaft – es war geschehen. Ich wusste nicht mehr, auf welche Seite ich mich stellen sollte.

Neunzig Minuten stehen, hüpfen, singen

Mein Freund reiste in Sachen Fußball, immer öfter wollte ich mit. Neben den Spielen die Städte sehen, die Museen. In Winterthur bestaunte ich im Kunstmuseum das lebendig wirkende Porträt eines Kamels, Kamelkopf mit Feldhalfter – gemalt 1838/39 von Johann Caspar Weidenmann. Zwei Stunden später schaute mich dieser Kamelkopf von einem Plakat des FC Winterthur an. Aus den Boxen kochte ehrlicher Punk, die Spieler der Stadt und des Fanvereins FC United of Manchester liefen auf. Winterthurs Nachwuchs pfiff und trommelte von seiner eigenen, "Sirupkurve" genannten Kindertribüne, alles von Alt-Punks aus autonomen Strukturen organisiert, die es bis in die Geschäftsführung geschafft haben. Bierkurve kontra Kommerz. Davon wollte ich mehr.

In Wien waren wir schon eine ganze Truppe. Sahen das Kunsthistorische Museum, eine Fußballbibliothek, die Karl-Marx-Höfe, das Viertel der Hohen Warte und das "Dörby of Love", ein Spiel unter Seifenblasen. Der Wiener Sportklub und der First Vienna Football Club boten so viel Harmonie, dass ich die Liedzeilen "Wir trinken und wir stinken, wir sind die bösen Linken" freudvoll mit heraus grölte.

Neapel, Anfang Dezember 2016. Zwanzig Jahre nach meinem Erasmus-Studium in Italien und dreißig Jahre nach meinen Schlachtenbummeleien zu Punkkonzerten stand ich vor einem Café in der Nähe des Stadions. Gleich sollte Napoli gegen Milano spielen. Ein Kumpel wusch sich auf der Toilette die Haare, er kam grad vom Balkan, wir leerten irgendwelche Flaschen und grinsten die sportlichen Herren an, die uns beäugten. Wir hatten vier Tickets an einem Kiosk der Innenstadt ermauschelt und fanden uns in der Kurve hinterm Tor wieder, zwischen riesigen Maradona-Fahnen. Der Gästeblock blieb leer, die Mailand-Fans durften nicht anreisen. Neunzig Minuten stehen, hüpfen, singen. Joints, Schnäpse, Aufregung. Unseren Jüngsten haute es um, er sank auf seine Sitzschale, das kam nicht gut an. "Allora, ma che fa?" fragten unsere neuen Freunde nach. Ich erzählte es ihnen, meine Kompagnons notierten und fotografierten, deutsche Journalisten, ach so. Danach rumstehen in der Pampa, nichts fuhr mehr. Wandern durch einen Tunnel, nach Kilometern ein Taxi, die Nacht endete am Morgen in skurrilen Bars der Altstadt. Gruppengefühl, Obacht für die Horde, ich fühlte mich so jung wie damals.

Zurück in Berlin sah ich mir Stadien bei Google Maps an. Den ganzen Mai hatte ich ein Stipendium in Brno. Mein erstes Fußballspiel alleine, Brno gegen Zlín in der neuen Arena, unsympathische Ultras, ich saß zwischen Brünner Kindern und lauschte ihrem Gesang. Das aufgegebene Stadion mitten in der Stadt ist tausendmal schöner. Ein Fasan stolzierte über den verwaisten Rasen.

Kürzlich in Albanien am Meer. Ein Pärchen am Nebentisch, sie Zwickau-Fan, er Meuselwitzer Ex-Kader. Gemeinsame Bekannte, gemeinsame Weiterfahrt in ihrem Mietwagen. Schnell haben wir ein Ziel, es gibt ein Spiel im Norden. Shkodra ist voll von Kosovaren, ein paar Finnen und einer Handvoll Hopper. Vorm Stadion sind wir schon fünf Deutsche, es dämmert, Polizisten trinken Kaffee, Tausende Spatzen fliegen auf, ein Hund bellt und der Geruch von gegrilltem Gemüse liegt in der Luft. Gleich wird eine Polizistin auf mich zustürmen und kurz bevor ich die Hände heben will, legt sie ihre behandschuhten Finger auf meinen Arm, strahlt über das ganze Gesicht und weist mir den Weg zum Presseeingang.

Anne Hahn, 1966 in Magdeburg geboren, Autorin und Subkulturforscherin. Unter anderem veröffentlichte sie "Stadionpartisanen. Fans und Hooligans in der DDR" (mit Frank Willmann), 2007, und "Das Herz des Aals", 2017. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".


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