Freitext: Dagmar Leupold: Künstler, pflegt den Kontinent!

 
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09.04.2019
 
 
 
 
Freitext


 
Künstler, pflegt den Kontinent!
 
Brexit, Chauvinismus, Gepöbel: Wir leben in Zeiten des Abbruchs – von Gesprächen, Partnerschaften, Kultur. Die Kunst muss helfen. Eine Hymne auf das chorische Projekt EU
VON DAGMAR LEUPOLD


Dieser Artikel ist erschienen auf unserer Schriftstellerplattform "Freitext".

Dieser Tage erreichte mich per E-Mail ein Aktionsaufruf des baden-württembergischen Städtetags, meine (Sing-)Stimme für Europa zu erheben: nämlich "Freude, schöner Götterfunken" anzustimmen, aufzunehmen und ins Netz zu stellen. Das ist ein bisschen albern und ein bisschen naiv, und die musikalische Qualität des Votums wird vermutlich äußerst dürftig ausfallen, aber die Initiative illustriert trefflich das Chorische des Unterfangens Europa.
 
Die mittlerweile reichlich kommerzialisierte populäre Variante der Stimmerhebung gibt es in Gestalt des Eurovision Song Contests bereits seit 1956, ausgerichtet von der EBU, der Europäischen Rundfunkunion. Aber Harmonie kann nicht verordnet werden, und Wohlklang darf keinesfalls der Zuckerguss auf schrillen Misstönen und sozialen Verwerfungen sein. Die Auseinandersetzung um den diesjährigen ukrainischen Beitrag zum Song Contest – der Sängerin Maruv wird zu große Nähe zu Russland vorgeworfen – zeigt, dass das Politische und Strategische auch in Bereiche eindringt, die als unpolitisch gelten, wie zum Beispiel der Unterhaltungsbereich. Maruv hat für sich die Konsequenz daraus gezogen und ihren Auftritt in Tel Aviv, dem diesjährigen Austragungsort, abgesagt.
 
Das sollten Kulturschaffende, Bildungsbeauftragte und Künstler, überhaupt alle Bürgerinnen und Bürger, finde ich, gerade nicht: Absagen und Abgesänge gibt es zuhauf. Das Mittel der Wahl derzeitiger Politik – nicht nur in der EU – ist immer öfter die Disruption, der Bruch, die Zerstörung. Der Brexit ist dafür das eindrücklichste Beispiel. Aber auch diesseits des Ärmelkanals werden Verträge aufgekündigt, Vereinbarungen ignoriert, Richter ohne rechtliche Grundlage in den Ruhestand versetzt, Gesetze per Handstreich auf den jeweiligen Machtinhaber zugeschnitten. Das entspricht dem binären, sprunghaften Code des Digitalen: 0 1 0 1. Es kennt keine Kontinuität, keine Entwicklung und keine Geschichte, sondern nur die Mechanik der Digits. Kultur und Kunst dagegen sind einem anderen Code verpflichtet: dem der Kontinuität und wechselnden Spannung, altmodisch gesagt: dem Analogen. (Wobei damit keinesfalls gesagt sein soll, dass die Künste vom Digitalen nicht auch profitieren. Aber das ist ein anderes Paar Schuhe.) Die Kontinuität ist diskursiv, die wechselnde Spannung sorgt für Korrektive.
 
Wir, die Künstler und Kulturschaffenden, sind in besonderem Maße aufgerufen, die Esperanto-Qualität von Kunstwerken und Bildungsangeboten – "keiner Zunge fremd", wie es in Joseph Haydns Schöpfung heißt – offensiv einzusetzen und zur Darstellung zu bringen, als Vermittler, als Störenfriede, als Quer-, Frei- und Mitdenker. Wir sollten ein Europa vertreten und verteidigen, welches als Kulturraum verstanden wird, auch wenn, vielmehr gerade weil es als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gegründet wurde und im aktuellen Kürzel EU nicht aufgehen sollte. Wir sollten den echten Lobbyisten, die die Hand nur ausstrecken, wenn eine andere sie wäscht, Konkurrenz machen, als Lobbyisten, die für ein vereinigtes (nicht unbedingt in allen Hinsichten einiges) Europa eintreten, das sich als lebendiges Zentrum der viel beschworenen Wertegemeinschaft in der Verantwortung sieht – aber nicht zentralistisch sein will, mit dem Wasserkopf Brüssel und dem Kunstherz Schengen. Eine Wertegemeinschaft ist kein abgesteckter Claim, sondern ein dynamisches, vitales, gefährdetes, immer zu hinterfragendes, zu erneuerndes und zu pflegendes Gebilde.


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