"Seit einiger Zeit ist Frankreich ein Land, das sich selber nicht mehr gefällt. Irgendwo auf dem Weg von der Erniedrigung im Zweiten Weltkrieg zur Enttäuschung über Europa und zum Unbehagen an der Globalisierung ist es in Morosität versunken. Jetzt scheint Frankreich soweit zu sein, dass es seine allmählich herangereifte Wut in einer Wahl auslässt, die zum ersten Mal seit den Neunzehnhundertvierzigern abermals die extreme Rechte an die Macht bringt und damit Europa in eine Turbulenz stürzt, wie sie seit jener Zeit keine erlebt hat." Das Zitat stammt von Roger Cohen, einem der klügsten, weltläufigsten und erfahrensten Köpfe der Weltpresse, der unter anderem für die New York Times schreibt. Er kennt Frankreich gut, war mehrfach Korrespondent in Paris. Er hat sicherlich recht, wenn er Frankreich als ein Land sieht, das zutiefst zerstritten ist, seines Parteiensystems überdrüssig, in seinem Wesenskern verunsichert – ein moroses Land. Und wenn sich eines nach dem ersten Wahlgang mit Sicherheit sagen lässt: Es wird auch nach der Stichwahl ein vielfach gespaltenes Land bleiben. Zahlen sprechen für Macron Es ging ja nicht nur um Europa, um proeuropäisch gegen antieuropäisch, um Integrationsbereitschaft gegen Rückzug in nationale Grandeur, offene gegen geschlossene Grenzen. Das war nur ein Thema. Ebenso wichtig und kontrovers war die Sozial- und Wirtschaftspolitik, vereinfacht: Agenda 2010 gegen großzügige soziale Abfederung. Nicht minder heftig wurde die Immigrationsfrage debattiert: Begrenzung der Einwanderung, Aufhebung des ius soli, nachdem Franzose ist, wer in Frankreich geboren wird, Verbot des Unterrichts in den Sprachen der Herkunftsländer. Auch kulturelle und ethische Fragen spielten eine Rolle, zumal die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe. Der parteilose Emmanuel Macron schnitt am Sonntag mit rund 24 Prozent der Stimmen am besten ab; Marine Le Pen, die streitbare Anführerin des Front National, der vor zwei, drei Monaten noch 27, gar 30 Prozent vorausgesagt worden waren, rutschte über zwei Punkte hinter ihn. Die beiden werden nun am 7. Mai gegeneinander in die Stichwahl gehen. Die Umfragen geben Macron gegenwärtig einen Vorsprung von 26 Punkten. Das müsste für einen glänzenden Sieg reichen. Der Frexit wäre das Ende Indessen hängt der Ausgang völlig davon ab, wem die Wähler des Konservativen François Fillon und des Linksaußen Jean-Luc Mélenchon ihre Stimme geben werden; die beiden vereinigten immerhin je ein Fünftel der Stimmen auf sich. Macron wird wohl von Rechts wie von Links Stimmen erhalten; viele Enttäuschte werden aber auch lieber zu Hause bleiben. Die Masse jedoch wird, je nach individueller Einstellung, ihren eigenen Schwerpunkt setzen wollen: Europa, Migration, Homo-Ehe, Patriotismus oder Nationalismus. Das kann zu Überraschungen führen. Deutschland muss Macron helfen Unsere Politiker überbieten sich in ihren Glückwünschen an Macron. Ihnen ist ein Stein vom Herzen gefallen. Eine Präsidentin Le Pen wäre aus deutscher Sicht der Horror, denn sie würde nicht nur den Euro aufgeben, sondern gleich die EU verlassen. Der Frexit hätte weit schlimmere Folgen als der Brexit. England hat nie den Euro eingeführt, und in der Europäischen Union war es immer schon halb drin, halb draußen. Frankreich hingegen ist seit sechzig Jahren ein tragender Pfeiler der Brüsseler Gemeinschaft und war neben der Bundesrepublik die treibende Kraft zur Gemeinschaftswährung. Le Pen im Élysée, das wäre das Ende des europäischen Projekts, wie wir es kennen. Le Pen kann noch gewinnen Mit Glückwünschen für Macron ist es daher nicht getan. Die Bundesregierung sollte vor dem Stichwahlsonntag klar machen, welche Hilfe sie bereit wäre, den Franzosen zu leisten. Macron muss etwas gegen die zweistellige Arbeitslosigkeit tun; er muss der schwächelnden Wirtschaft aufhelfen; und auch er will die Aufnahme von Migranten begrenzen. Vor allem aber hat er sich vorgenommen, dem Europäischen Gedanken neues Leben einzuhauchen. Berlin könnte ihm da mit konkreten Vorschlägen in puncto Handelsüberschuss und Reformen der Eurozonen-Strategie den Rücken stärken. Mindestens die Umrisse einer verstärkten Zusammenarbeit in der EU müssten allerdings in den nächsten zehn Tagen sichtbar werden. Es wäre eine Methode, die Niederlage Marine Le Pens zu sichern. Gewährleistet ist sie bisher nicht – Roger Cohen hat das in einem Szenario geschildert, das einem Gänsehaut verursachen kann: "Die eher nach rechts neigenden Wähler Fillons gehen zu Le Pen über. Die Anhänger des linksradikalen Mélenchon weigern sich, für Macron zu stimmen; sie glauben, dass Macron trotz all seines progressiven Geredes auf einen neoliberalen Globalkapitalismus aus ist. Auch einige Anhänger des Sozialisten Hamon weigern sich, Macron zu unterstützen. Die Zahl derer, die sich der Wahl enthalten, steigt in die Höhe. Le Pen quetscht sich an 50 Prozent vorbei und wird Präsidentin." Nur ein Albtraum? Es wäre eine Zeitenwende. |
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