Twitter kann kein fiktionaler Raum sein Mehdi Meklat galt als literarisches Talent aus den Banlieus. Dann kam heraus, dass er rassistische Tweets schrieb – unter Pseudonym. Soll das also Kunst sein? VON LENA MÜLLER |
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| | Die französischen Autoren Mehdi Meklat (links) and Badroudine Said Abdallah © Lucien Lung/For The Washington Post/Getty Images |
Was passiert in den Köpfen der Menschen, in der Minute vor Bekanntgabe der Wahlergebnisse? Wie gehen sie damit um, wenn sich entscheidende Veränderungen für sie abzeichnen, in der Politik, für die Gesellschaft? Diese Fragen haben sich Mehdi Meklat und Badroudine Saïd Abdallah in ihrem zweiten gemeinsam verfassten Roman Minute gestellt. In sechzig Sekunden und sechzig Kapiteln sollen, so der Klappentext, "imaginäre Stimmen" des "tatsächlichen Frankreichs" hörbar werden. Eine journalistische Fiktion, eine fiktive Reportage, eine Reise in die Köpfe von Menschen, die die Ränder oder auch die vermeintliche Mitte der französischen Gesellschaft bewohnen.
Dementsprechend ist Minute ein vielperspektivisches Buch: Neben dem Kandidaten und der Kandidatin auf das Präsidentschaftsamt folgen wir einem Schriftsteller, der Mutter des Kandidaten, einem Kneipengänger, der sein gesamtes Geld auf den Sieg der Kandidatin gewettet hat, zwei Journalisten, die den Wahlabend moderieren, einem Obdachlosen, einer Wahlhelferin, drei Insassen einer Haftanstalt mit unterschiedlichem Werdegang, einem Uber-Fahrer, der mit der Frau, die er zum Flughafen bringt, ins nächste Flugzeug steigt, einem Mann, der gerade in Handschellen in den Senegal abgeschoben wird, und einer Familie aus einem südfranzösischen Dorf, die nach Paris gekommen ist, um den Sieg ihrer Kandidatin zu feiern. Selbst im Kopf von Rihanna verbringen die LeserInnen ein paar schlaflose Momente. Zudem sind alle ständig in Kontakt, schreiben Textnachrichten, Briefe an sterbende Eltern oder die Nation.
Diese Anlage ermöglicht, was sie verspricht: Vielstimmigkeit und ein gewitztes Spiel mit Wirklichkeitsebenen und Diskursen, wenn beispielsweise der prekäre Fahrer von Uber dem sich volksnah gebenden Journalisten seinem Wagen erklärt, dass sie zwar beide Befehlsempfänger seien, er aber mehr zuhöre als spreche, das sei der entscheidende Unterschied. Oder wenn der Schriftsteller sinniert: "Wir haben keine Zeit mehr, uns Zeit zu nehmen, wir müssen im Rennen bleiben, ständig außer Atem, uns durch die Zeitung blättern, bevor die nächste Ausgabe kommt, die Internetseiten aktualisieren, auf Twitter sein, Tweets lesen, Tweets schreiben, jede Sekunde, um zu existieren, um sich zu versichern: Ich bin da, ich lebe, niemand darf mich vergessen." Das liest sich schon wie eine halbe Erklärung, eine Zustandsbeschreibung der Autoren selbst. Twitter, das ist gewissermaßen die Erzählung hinter der Erzählung, der Hintergrund zum Buch.
Antisemitische Tweets
Mehdi Meklat und Badroudine Saïd Abdallah fingen als 15-Jährige bei Bondy Blog an, einem Blog, der während der Aufstände in den Banlieues 2005 gegründet wurde, von Schweizer Journalisten, die damals (als einzige) Räume in der Banlieue gemietet hatten, um von dort zu berichten. Der Blog wurde anschließend an eine Redaktion vor allem aus Jugendlichen aus der Banlieue übergeben, seither schreiben dort junge Autorinnen und Autoren über Orte, über die sonst nur von außen berichtet wird, Reportagen, Straßenumfragen, kurze kulturjournalistische Texte. Mittlerweile kooperiert der Blog mit der Tageszeitung Libération.
Das literarische Talent von Mehdi Meklat und Badroudine Saïd Abdallah wurde bald bemerkt und die beiden wechselten zu etablierten Medien. France Inter engagierte sie als Kommentatoren, für Arte produzierten sie einen Dokumentarfilm über den Abriss eines Plattenbauriegels in der nördlichen Banlieue von Paris. 2015 veröffentlichen sie ihren ersten Roman Burn Out, in dem sie den Fall des Arbeitslosen Djamal Chaar literarisch verarbeiteten, der sich 2013 vor dem Arbeitsamt in Nantes selbst verbrannte.
Zum Erscheinen ihres zweiten Romans Minute im Februar 2017 lud das Kulturmagazin Les Inrocks die beiden zu einem langen Interview mit der ehemaligen französischen Justizministerin und prominenten Rassismuskritikerin Christiane Taubira ein. Einen Tag später waren die beiden zu Gast in einer bekannten Literaturshow im Fernsehen. Eine Zuschauerin machte während der Sendung in den sozialen Netzwerken öffentlich, dass Mehdi Meklat über Jahre hinweg, von 2011 bis 2015, unter dem Pseudonym Marcelin Deschamps Tausende Tweets abgesetzt hatte, die antisemitische, homophobe, sexistische und sogenannte antifranzösische Beleidigungen enthielten. Nun hagelte es Kritik, Mehdi Meklat entschuldigte sich in einer kurzen Stellungnahme auf Facebook und Twitter und verließ das Land. Seitdem: nichts mehr.
Häme und Schulterzucken
Mehdi Meklat hat massenhaft beleidigende Kommentare verfasst und sie über Twitter öffentlich gemacht. Dafür wählte er ein sehr franko-französisch klingendes Pseudonym, das an den Konzeptkünstler und Wegbereiter des Dadaismus Marcel Duchamps erinnert, aber es scheint ihm nicht darum gegangen zu sein, den Rassismus, Sexismus, Antisemitismus und die Homophobie der französischen Gesellschaft bloßzustellen. Vielmehr besteht er in seiner Entschuldigung auf Facebook darauf, dass es ein Spiel, ein Austesten von Grenzen war: "Bis 2015 verkörperte ich unter dem Pseudonym 'Marcelin Deschamps' auf Twitter eine schändliche, rassistische, antisemitische, frauenfeindliche, homophobe Person. Durch Marcelin Deschamps befragte ich den Begriff von Exzess und Provokation."
Der digitale Wilde Westen
2015 ersetzte er den Namen Marcelin Deschamps mit seinem eigenen und twitterte vom selben Konto weiter. Die alten Tweets blieben bestehen. Nun standen sie unter seinem Namen. Sollte es vorher eine Unterscheidung von Fiktion und Realität gegeben haben, fielen sie spätestens jetzt in eins. Mehdi Meklat wird der Autor seiner Aussagen, der er immer war. Die Geschichte wirft grundlegende Fragen auf, zum Verhältnis von Fiktion, Halb-Fiktion, Öffentlichkeit und Verantwortung auf Twitter. Vom Spiel mit Identitäten und Uneindeutigkeiten, von Popkultur und ihren Grenzen. Mehdi Meklat unterstreicht, dass Twitter zu seinen Anfängen 2011 ein uneindeutiger Raum gewesen sei: "Twitter war damals der digitale Wilde Westen. Eine neue Sache, fast vertraulich, ohne jede Regel, ohne jede Mäßigung."
Twitter als Ort der Meinungsmache
Aber kann Twitter überhaupt ein fiktionaler Raum sein? Sicherlich existieren bis heute reale und mehr oder weniger fiktionale Personen auf Twitter nebeneinander. Gleichzeitig wurde es über die Jahre immer mehr zu einem Raum, in dem Unternehmen ihre Kunden binden, in dem Regierungserklärungen abgegeben werden, in dem offizielle Politik in ihrer persönlichsten Form betrieben wird. Das macht Twitter zu einem öffentlichen Raum, in dem Beleidigungen und Angriffe tatsächliche Konsequenzen haben, für die Betroffenen von Hetze, aber auch für diejenigen, die ihren Hass dort artikulieren. Und doch bleibt diese Uneindeutigkeit, ein Dunst, der über allem liegt.
2017 ist Twitter vor allem auch bekannt als ein Ort der Meinungsmache. Es ist ein ungeeigneter Ort für Fiktion, weil die Erzählung fehlt. Anders als im Roman beispielsweise. Wenn in Minute unterschiedliche Figuren sprechen, wenn dort eine Politikerin der extremen Rechten ihre Meinung kund tut, fällt das nicht in eins mit den Meinungen der Autoren. Der Rahmen der Erzählung erlaubt diese Komplexität. Auch wenn die Autoren den Roman unter einem Pseudonym veröffentlicht hätten, gingen die Figuren nicht in ihren Schöpfern auf, wenn diese ihr Pseudonym später auflösen würden. Wenn derselbe Autor aber twittert, mit Pseudonym oder ohne, wird alles, was er unter diesem Pseudonym twittert, legitimerweise seiner Person zugeschlagen. Es fehlt die Rahmung, die eine andere Lesart möglich machen würde.
Die Komplexität bewohnen
Es kann also auf Twitter keine fiktionalen Tweets geben, antisemitische, sexistische, homophobe Äußerungen müssen als solche gesehen werden und auf sie muss reagiert werden. Schließlich haben sie Auswirkungen, verletzen, schüchtern ein und bestimmen den gesellschaftlichen Raum, in dem wir uns bewegen. Äußerungen werden bei Anzeige daher auch juristisch als Verunglimpfungen verfolgt und sind nicht durch Kunstfreiheit gedeckt.
Mehdi Meklats Tweets waren bekannt – und wurden dennoch nicht thematisiert. Niemand aus seinem journalistischen Umfeld scheint den Inhalt dieser Tweets kritisiert und die Haltungen mit Nachdruck hinterfragt zu haben. Mehdi Meklat selbst sagt: "Marcelin (...) erkundete die großen Grauzonen. Er fragte sich, wann man ihn aufhalten würde und ob sein Konto bald gelöscht würde. Dazu kam es nie." Als der ausgezeichnete Beobachter, der er ist, konnte er beobachten, wie seine Kollegen und Arbeitgeberinnen nicht reagierten. Wie sie fasziniert waren, von seiner Poesie und seiner Fähigkeit, mit wenigen Worten soziale Situationen einzufangen, von seinem Engagement für einen Journalismus, der nicht aus bestimmten gesellschaftlichen Schichten, bestimmten Vierteln und von bestimmten Schulen kommt. Blieb er letztendlich weiter der Jugendliche aus der Banlieue, von dem solche Provokationen erwartet wurden? Hatten auch seine Kollegen und Arbeitgeberinnen Schwierigkeiten, ihn als Journalisten ernst zu nehmen und ihn auch dementsprechend zu kritisieren?
Auch Personen, die gute Bücher schreiben, können auf Twitter andere fertigmachen. Dafür müssen sie kritisiert und konfrontiert werden. Sofort, nicht Jahre später. Denn diese Auseinandersetzungen könnten sich lohnen.
Die Verfasserin dankt Suylan Hopmann für wichtige Gedankenanstöße beim Schreiben.
Lena Müller, geboren 1982 in Berlin, arbeitete als Bäckerin in Frankreich und studierte anschließend Kulturwissenschaften in Paris und Hildesheim. Sie lebt als Literaturübersetzerin und Rundfunkautorin in Berlin. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8". Sie wollen der Diskussion unter dem Text folgen? Hier geht es zum Kommentarbereich. |
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