10 nach 8: Julia Zange über Traumatisierung

 
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24.04.2017
 
 
 
 
10 nach 8


You have to face it
 
Jahrzehnte kann eine junge Frau sich nicht erinnern, was ihr als Kind widerfahren ist. Plötzlich weiß sie: Der eigene Vater hat sie missbraucht. Wie heilt man ein Trauma?
VON JULIA ZANGE

In biografischen Krisensituationen können Flashbacks an Traumate auch nach Jahrzehnten wieder aufblitzen. © Erico Marcelino/Unsplash
 
In biografischen Krisensituationen können Flashbacks an Traumate auch nach Jahrzehnten wieder aufblitzen. © Erico Marcelino/Unsplash
 
 

Es ist schon ein paar Jahre her. Nathalie* saß auf einer Liege in einem überhitzten Arztzimmer in Dheli. Sie fühlte sich elend, irgendwie weit weg von allem, nicht mehr wie sie selbst. Der indische Arzt wischte mit einem schmutzigen Lappen ein antiquiertes Quecksilber-Fieberthermometer ab und steckte es ihr ungefragt in den Mund. Dann schaute er sie an. Vielleicht hatte sie noch nie jemand so angeschaut. Er schaute neugierig, offen, unvoreingenommen in ihr Gesicht.

"Do you have stress?"

Sie schüttelte den Kopf.

"Is there anything laying on your soul, which is heavy?"

Sie schüttelte wieder vehement den Kopf. Er sollte ihr einfach schnell ein Medikament verschreiben. Und hier keinen Psychoquatsch mit ihr anfangen. Nathalie war sich sicher, dass sie Malaria hatte. Oder etwas noch Schlimmeres. Sonst würde es ihr ja nicht so schlecht gehen.

Der Arzt schaute gelassen auf das Fieberthermometer. Er lächelte.

"It's fine."

Dann schaute er ihr wieder in die Augen. Eine leichte Besorgnis zog wie eine Wolke zwischen seine Augenbrauen. Er gab Nathalie die Hand. Und während sie die Praxis wieder verließ, sagte er: "Little Miss from Germany! You have to face it."

Dieser Satz hallte noch lange in ihrem Kopf nach. Als sie etwas später mit Verdacht auf eine Schwermetallvergiftung im Krankenhaus lag; als sie wieder zurück in Deutschland auf verschiedenen Stühlen saß, im Gespräch mit verschiedenen Psychotherapeuten, mit denen sie ihre Symptome besprach, die sie schon seit vielen Jahren hatte, aber die während ihres Backpacking-Trips durch Indien auf einmal explodiert waren: Dieses wolkige Gefühl. Von allem sehr weit entfernt zu sein. Die Taubheit. Die Lähmungserscheinungen. Die Albträume und Panikattacken. Das Gefühl, dass ihr Körper sich wie ein zerstörtes kubistisches Picasso-Gemälde anfühlt. Die Symptome begleiteten sie wie ein Schleier, den sie jeden Tag hinter sich her zog. Und der alles etwas schwerer machte.  

Er dreht den Schlüssel um

YOU – HAVE – TO – FACE – IT. Aber was sollte sie denn "facen"? Es gab doch gar kein offensichtliches Problem in ihrem Leben. 

Nichts half ihr. Keine Antidepressiva, keine Neuroleptika, keine Tranquilizer, keine Psychoanalyse, keine Konzentrative Bewegungstherapie. Nur Ablenkung half ein bisschen. Also stürzte sie sich nach ihrer Masterarbeit auf die Doktorarbeit, obwohl sie gar nicht wusste, was sie damit anfangen sollte. Sie machte einfach weiter. Immer geradeaus. Wie ein kleiner genügsamer Roboter.

Vor circa einem Jahr hatte sie ein Vorstellungsgespräch. Sie war nicht besonders aufgeregt, vielleicht ein bisschen gestresst. Eine Stelle in der Öffentlichkeitsarbeit für eine Non-Profit-Organisation. Ein freundlicher, gut rasierter Herr empfing sie und führte sie in sein Büro. Die Sonne schien durchs Fenster, an den Wänden hingen Poster mit Eisbären. Einer der Bären aß eine Banane. Aus irgendeinem Grund drehte ihr Gesprächspartner den Schlüssel einmal um, als er hinter ihnen die Tür schloss. Nathalie setzte sich. Der Herr wirkte professionell, lächelte charmant, er nannte sie immer mal wieder bei ihrem Namen. "Frau Hartwig, das freut uns sehr."

Nathalie antwortete, aber etwas hatte in ihrem Inneren eingeschlagen. Ihr Herz pochte. Sie hatte Todesangst und das Gefühl, gleich vergewaltigt zu werden. Ihr Kopf sagte: Beruhig dich. Das ist ein Vorstellungsgespräch. Alles total harmlos. Der Typ hat aus Versehen die Tür abgeschlossen. Ihr Körper sagte: Schnell raus hier. Beweg dich. Sonst stirbst du.

Ein Licht, ein Geruch

Wie in Trance hielt sie die dreißig Minuten durch. Der Herr im Anzug entließ sie wieder in die Freiheit. Er würde sich melden, aber sei optimistisch. Nathalie beruhigte sich ein wenig. Auf dem Weg nach Hause in der U-Bahn passierte es dann. Als hätte sich eine Tür in ihrem Inneren geöffnet. Etwas schoss wie heiße Lava nach oben. Eine brachiale Gewissheit rastete in einer dafür vorgesehen Stelle ein: Er hat mich vergewaltigt. Sie sah ihr altes Kinderzimmer. Ein Licht, ein Geruch. Sie brach vollkommen ein in dieses Gefühl, das sie jetzt umschloss, verschlang. Sie rutschte durch die Tür. Ein metallisches Gefühl zog ihren Nacken hinauf. Nathalie hatte Angst, dass sie jetzt nie wieder zurückkommen könnte. Als würde jemand mit Metall in ihren gesamten Körper eindringen. Der Druck war so groß. Für einen Moment dachte sie: gleich zerspringt meine Persönlichkeit.

Das kann nicht sein! Das bildest du dir ein, sagte ihr Kopf. Dein Vater würde so etwas niemals tun. Er liebt dich.

Du weißt es ganz genau!, rauschte ihr Körper. 

So etwas passiert nur in Horrorfilmen, erhob sich der Kopf.

Es war in deinem Kinderzimmer, wusste der Körper.

Manche Menschen erinnern sich nie

Zu Hause schrie sie haltlos vor Entsetzen, zitterte, krampfte, auf ihren Lippen bildeten sich kleine Blasen als hätte sie eine plötzliche Allergie. Sie spürte nichts mehr, schlug sich selbst, bis sie fast bewusstlos war. 

Ihr Kopf sagte: Ich wünschte diese Tür wäre nie aufgegangen.

Ihr Körper flehte: Bitte. Schau mich an. Hilf mir. 

Also rief Nathalie ihre Mutter an. Um ihr zu erzählen, was gerade passiert war und um sie zu warnen, denn natürlich machte sie sich Sorgen, dass ihre Mutter seit über dreißig Jahren mit einem Vergewaltiger zusammen lebte. Während sie sich ja immerhin in Sicherheit in ihrer Berliner Wohnung befand.

Aber ihre Mutter sagte nur: "Das kann nicht sein". Und legte auf.

Sie hatte die Befürchtung, diese Situation schon einmal erlebt zu haben. Auch damals sagte man ihr: Es ist doch gar nichts passiert. Das bildest du dir ein.

Der Überlebenswille verschwindet

Aber jetzt konnte sie eine andere Abzweigung nehmen. Sie ruft bei LARA an, einem Krisenzentrum für vergewaltigte Frauen. Sie geht zum Krisendienst. Sie muss es allen erzählen. Sofort. Und sie begegnet sie zum ersten Mal Menschen, die ihr glauben. 

Kann man etwas 30 Jahre lang vollkommen vergessen? Nathalie sitzt versunken im Polster eines Charlottenburger Cafés und umklammert einen Kaffeebecher, als sei er ihr einziger Halt. Sie ist eine zierliche Frau mit kurzen blonden Haaren und einem durchdringenden Blick. Flashback nennt man das, was Nathalie durch einen Trigger ausgelöst, erlebt hat.

Dissoziative Amnesie nennt man hingegen das komplette Abspalten von Gedächtnisinhalten. Es ist nicht so, dass sie die Erlebnisse bewusst verdrängt hätte. Dieses Wissen existierte einfach bis zu jenem Zeitpunkt nicht. Es ist ein vollkommen neuer Fakt, mit dem Nathalie jetzt zusammenleben muss. Etwas in ihr WEIß jetzt, dass es passiert ist. Aber ERINNERN kann sie sich trotzdem nicht. 

"Jedes Mal, wenn das alte Gefühl wieder über mich kommt, zerbreche ich. Im wahrsten Sinne des Wortes. Aber danach bin ich nur noch stärker als vorher. Es fühlt sich ein bisschen so an, als würde man mir den Kopf abhacken, der aber jedes Mal wieder nachwächst. Mein Stolz, mein Überlebenswille, mein Gefühl, alles verschwindet. Manchmal für ein paar Minuten, manchmal für Tage. Aber: Ich lasse mich nicht zerbrechen." Sie klingt trotzig. 

Sie denkt seitdem jeden Tag darüber nach. Versucht zu rekonstruieren. Sie erinnert sich nicht. Aber sie weiß es. Die Tür mit der heißen Lava ist jetzt wieder zu. Aber seitdem weiß sie es. Sie hat es ja gerade erlebt. Damals nicht. Jetzt, 2017, von der U-Bahn auf dem Weg in ihre Wohnung, hat sie es 1:1 erlebt. "Es wird noch ein langer Weg sein, aber ich bin froh, dass es raus ist. Zum ersten Mal kann ich einordnen, warum ich diese Symptome habe. Ich bin mir nicht sicher, ob ich jemals wieder einem Menschen voll vertrauen kann. Aber irgendwie kann ich seitdem zum ersten Mal ICH sagen. Und weiß, wer damit gemeint ist. Ich weiß, dass ich die Deutungshoheit über meine Gefühle und meine Existenz habe. Und sonst niemand."

Anfällig für Fremd-Bestimmung

Wie kann eine Erinnerung sich komplett löschen? Und warum kommt sie dann durch die Hintertür doch wieder hervor? Prof. Dr. Stefan Röpke, Oberarzt für Psychiatrie an der Berliner Charité, erklärt im Interview: "Wenn ein Trauma besonders schlimm ist und ein gewisses Stresslevel überstiegen wird, kann es sein, dass die Erinnerung verschwindet. Sie ist jedoch nicht vollständig gelöscht. Lediglich anders abgespeichert. Die Einordnung von Raum und Zeit geht verloren. Sie flottiert frei. Außerdem können traumatische Erlebnisse auch die Hirnstruktur schädigen und in den Stoffwechsel eingreifen. Ziel der Traumatherapie ist es, die Erinnerung wieder zu rekonstruieren und zu ordnen. Die Gedächtnisinhalte werden somit wieder zusammengeführt." Das passiert am besten über narrative Expositionsmethoden. Auch EMDR, eine Psychotherapiemethode, die ihren Ursprung in der Psychotraumatherapie hat, kann dabei helfen.

Manche Menschen erinnern sich nie. Aber besonders in biografischen Krisensituationen können Flashbacks an Traumata auch nach Jahrzehnten wieder aufblitzen. Für Traumaopfer ist es nicht nur wichtig, einmal alle Gefühle, die man während und nach dem Trauma hatte, noch einmal zu durchleben, sondern einzig die Bewusstheit darüber, was passiert ist, lässt demjenigen die Chance, ein gesundes Überlebensmuster neu zu lernen. Es ist ein bisschen wie ein Systemfehler. Auf magnetische Art und Weise zieht es einen zu Personen, die dem Täter sehr ähnlich sind. Man kreiert das Trauma immer wieder selbst. Man sucht den Schmerz oder man fügt ihn sich einfach selbst zu. Und: solange es diesen unbekannten Bereich im Selbst gibt, ist man sehr anfällig für Fremd-Bestimmung. Denn diese schimmernde schmerzende Leerstelle lässt sich beliebig auffüllen.

Nathalie kann jetzt immerhin schon einmal sagen: Ja, ich habe ein Trauma. Ja, es gibt ein Problem. Ein Phantom kann man eben nicht festhalten. Eine Erinnerung kann man wieder wachrufen. Egal, wie grauenvoll sie ist. Wenn man ihr einmal ins Gesicht geblickt hat, kann man endlich sagen: Es ist vorbei. Du darfst gehen Vergangenheit. Ich lebe jetzt. 
 
*Name von der Redaktion geändert   

Julia Zange, Jahrgang 1983, lebt und arbeitet in Berlin als Autorin und Schauspielerin. Gerade schreibt sie an einem Kurzgeschichtenband aus der Hundeperspektive und ist Teil des Web-Serien-Projekts "Translantics". 2016 erscheint der Kinofilm "Mein Bruder Robert ist ein Idiot", in dem sie die Hauptrolle spielt. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".



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