10 nach 8: Gabriele Michel über Libyen

 
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31.05.2017
 
 
 
 
10 nach 8


Der steinige Weg aus der Unterdrückung
 
Unter Gaddafi wurden Frauen in Libyen systematisch vergewaltigt, um sie mundtot zu machen. Ihr Kampf für Freiheit und Selbstbestimmung erfordert auch heute noch Mut.
VON GABRIELE MICHEL

Eine der neu erkämpften Freiheiten: Frauen machen öffentlich Yoga am Strand der libyschen Hauptstadt Tripolis. © Mahmud Turkia/Getty Images
 
Eine der neu erkämpften Freiheiten: Frauen machen öffentlich Yoga am Strand der libyschen Hauptstadt Tripolis. © Mahmud Turkia/Getty Images
 
 

Wenn gegenwärtig in den deutschen Medien über Libyen berichtet wird, dann stehen die Milizen im Vordergrund: die Auflösung der Dschihadistengruppe Ansar al-Scharia, die jüngsten ägyptischen Angriffe gegen Terrorcamps, und, immer wiederkehrend, die Gewalt der Milizen gegen Migranten: Sie werden verschleppt und auf Sklavenmärkten angeboten, über 20.000 von ihnen sitzen in libyschen Gefängnissen.

Um die Situation in Libyen zu verstehen, ist es jedoch wichtig, weiter zurück zu schauen – zum Beispiel auf den Teil der libyschen Bevölkerung, der noch vor wenigen Jahren seinerseits von Gewalt, Folter und Sklaverei bedroht war: die libyschen Frauen. Erinnern wir uns also: In den Tagen der Arabellion sah man in Tunis und auf dem Tahrir-Platz, während der grünen Revolution im Iran und auf den Straßen Syriens fast überall Frauen – Frauen, die protestierten, Frauen, die organisierten, Frauen, die Waffen trugen. Nur nicht in Libyen. In Libyen musste man den Eindruck gewinnen, die Rebellion gegen Gaddafi sei ganz und gar das Werk von Männern. So wie es auch jetzt bei den Verhandlungen über die sogenannte Migrationspartnerschaft der EU mit Libyen so scheint, als sei dieses Land ein reines Männerland.

Im Oktober 2011, als Gaddafi gestürzt war, reiste die französische Journalistin Annick Cojean nach Libyen. Sie wollte der Frage auf den Grund gehen, wo die libyschen Frauen waren: Was hatte sie daran gehindert, am politischen Geschehen teilzunehmen? Schnell fand Cojean heraus, dass viele Frauen im Verborgenen durchaus an den Aufständen beteiligt waren. Sie hatten zum Beispiel Rebellen versteckt und Waffen geschmuggelt. Etwas länger dauerte es, bis sie eine Schicht tiefer gedrungen war und dort einen grauenvollen Fund machte, der ihr die Nicht-Sichtbarkeit der Frauen auf ungeahnte Weise erklärte: Gaddafi hatte Hunderte Frauen während seiner Herrschaft systematisch vergewaltigt und gefoltert, er hatte Frauen und junge Mädchen über Jahre hinweg im Keller seines Wohnsitzes Bab al-Azizija eingesperrt, unter Drogen gesetzt und sexuell ausgebeutet.  

Permanente Angst

Der Sturz des Regimes befreite die Frauen und Mädchen nun zwar aus dieser Folter, doch eine eigenartige, aggressive Angst der Frauen vor dem Toten und seiner doch eigentlich gebrochenen Herrschaft lebte ebenso weiter wie das dahinter stehende System der Gewalt. An die Stelle der Angst vor dem Diktator trat nun die Angst vor den eigenen Brüdern und Vätern wegen der Schande, vor den Gefolgsleuten Gaddafis wegen der Rache, vor religiösen Fanatikern wegen der Sünde, ja sogar Angst vor den Revolutionären, denen sie halfen, wegen deren Verrohung. Vielen Frauen war klar, dass sie sich ewig würden verstecken müssen. Manchen blieb als einzige Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, die Prostitution.

Als ich im Frühjahr 2014 zum ersten Mal nach Libyen reiste, um Kontakte zu Frauengruppen zu vertiefen, wollte ich wissen, wie die Frauen jetzt, sechs Jahre nach der Revolution und Gaddafis Tod, leben. Gelingt es Frauengruppen, vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen und trotz der fortbestehenden Gewalt neue Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln? Anfangs befürchtete ich, bei den Frauen auf Misstrauen zu stoßen – aus Vorsicht der Fremden gegenüber, vor allem aber aus Angst gegenüber einer Gesellschaft, in der es keinerlei Stabilität und zivilgesellschaftliche Strukturen gab und gibt. Tatsächlich aber begegneten mir beeindruckend wehrhafte, mutige Persönlichkeiten, offen und entschieden, für die Interessen von Frauen in Libyen zu kämpfen. 

Unbürokratische Beratung in Frauenzentren

Begonnen haben sie mit dem Aufbau von Frauenzentren in Tripolis und Bengasi, die Weiterbildung anboten. Die Information, dass es diese Zentren gibt, verbreitete sich in Windeseile. Der Zustrom war von Anfang an groß, versprach das Angebot von Englisch- und Computerkursen doch eine berufliche Perspektive, einen ersten Schritt in ein selbstbestimmtes Leben. Zudem ist Weiterbildung ein unverdächtiges Angebot – sowohl gegenüber misstrauischen (Ehe-)Männern wie auch für die Frauen selbst, von denen viele durchaus auch deshalb kamen und kommen, weil sie psychosoziale oder gesundheitliche Probleme haben, weil sie unter der Isolation in der Familie oder unter häuslicher Gewalt leiden, aber nicht explizit für diese Problemen Beratung suchen würden. Im Frauenzentrum erhalten sie unbürokratisch Beratung von Sozialarbeiterinnen und Therapeutinnen und werden bei Bedarf zu einer Klinik oder zu einer Rechtsanwältin begleitet.

Motiviert durch den Erfolg dieser Weiterbildungsangebote haben Aisha und ihr Team Nähstuben eingerichtet, die Aufträge zum Beispiel für Krankenhäuser ausführen. Und sie haben aus eigenen Kräften ein Ausbildungsprogramm für Krankenschwestern aufgebaut, das inzwischen staatlich anerkannt wurde und den Absolventinnen die Möglichkeit bietet, als Pflegekraft oder Krankenschwester zu arbeiten. Die Jobchancen sind in diesem Bereich besonders groß, weil diese sogenannten niederen Dienste unter Gaddafi von Gastarbeitern aus osteuropäischen und asiatischen Ländern geleistet wurden, die mittlerweile das Land verlassen haben. Diese berufsbildenden Maßnahmen sind auch deshalb von großer Bedeutung, weil Frauen in Libyen bis heute weitgehend vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden. Vor allem die Kriegswitwen trifft das hart.

Ein vehementes "Nie wieder!"

Neben der beruflichen Qualifikation und der psychosozialen Unterstützung bieten die Zentren den Frauen aber auch schlicht Zusammenhalt – und Sicherheit. Wenn sie danach gefragt werden, warum sie in die Frauenzentren kommen, betonen viele der Frauen, dass dies der erste und einzige Platz sei, an dem sie sich sicher fühlen.
Wie wichtig und wie schwierig der Weg in die Öffentlichkeit für libysche Frauen ist, wurde mir durch eine zufällige, eigentlich unspektakuläre Beobachtung besonders deutlich: In den Straßen der Hauptstadt huschte eine alte Frau in einem eigentümlichen, langen weißen Gewand an mir vorbei. Es ist so geschnitten, dass die Frauen die vorderen Teile mit dem Mund zusammen halten müssen. Inzwischen wird es kaum noch getragen, aber noch bis vor ein, zwei Generationen war es üblich. Der Sprung von einer mit diesen Gewändern verbundenen stummen Magd hin zu der heute propagierten Rolle als Augenweide in einer der üppig wallenden, glitzernden Festroben, die die Schaufenster dominieren, ist gewaltig. Und auch die Rolle als Augenweide hat unter den Frauen ausgedient. Die libyschen Aktivistinnen jedenfalls, die ich getroffen habe, wollen mit ihrer Arbeit neue Wege jenseits dieser Rollenmodelle eröffnen.

Laila, die Leiterin des Bengasi-Teams im Osten des Landes, setzt sich zudem für die Verankerung von Frauenrechten in der neuen Verfassung ein. Mit 40 anderen Libyerinnen hat sie im letzten Jahr eine alternative Friedensagenda verfasst, die im Januar 2016 an Martin Kobler, den Sondergesandten der Vereinten Nationen für Libyen, übermittelt wurde. Junge libysche Bloggerinnen machen in Foren wie project.silphium und jusoorly die Stimmen und das Leben von Frauen in Libyen öffentlich. Und den Frauen geht es keineswegs nur darum, weibliche Rollenbilder zu verändern. Aisha und ihr Team gehen auch zusammen mit ehemaligen Milizionären in Schulen, um männliche Jugendliche über die Milizen aufzuklären und sie davon abzubringen, sich kämpfenden Einheiten anzuschließen.

"Wir wehren uns"

Die meisten der Mitarbeiterinnen in Bengasi sind mittlerweile selbst Binnenflüchtlinge, weil das Zentrum in umkämpften Gebieten liegt und beschossen wird. Sie arbeiten trotzdem weiter – gerade in den Notunterkünften mehren sich Fälle von häuslicher und sexueller Gewalt.

In Tripolis hatte das Zentrum bereits im März 2015 ein SOS-Telefon eingerichtet, weil für Überlebende von häuslicher Gewalt oft schon der Weg ins Frauenzentrum gefährlich ist. Allein im ersten Jahr gab es 217 Anrufe. Mittlerweile hat sich jedoch auch hier die Situation zugespitzt. Im Rahmen der ständigen Kämpfe zwischen den verschiedenen Clans sind Entführungen zu einem regelrechten Geschäftszweig geworden. Auch Frauen, die noch nicht Opfer von Gewalt geworden sind, trauen sich jetzt nicht mehr aus dem Haus. Für sie ist das Nottelefon oft die einzige Möglichkeit, Unterstützung zu bekommen.

Wenn ich Nachrichten aus Libyen höre und Bilder aus Bengasi sehe – allzu vertraute Bilder von zerbombten Gebäuden und patrouillierenden Milizen, die Gewehre griffbereit – dann frage ich mich immer wieder, woher Laila, Aisha und ihre Teams den Mut und die Energie für ihre Arbeit nehmen. Dass sie so entschieden und couragiert handeln, hängt, so mein Eindruck, auf verschwiegene Weise mit den Erfahrungen zusammen, die Cojeans Buch beschreibt. Zwar gab es nur wenige vertraute Momente – nach viel Teetrinken, gemeinsamem Essen und Erzählen – in denen ich mit den Frauen über die Vergewaltigungen gesprochen habe. Aber diese Gespräche legen nahe, dass ihr fragloses "Wir wehren uns, wir behaupten uns, wir stehen füreinander ein" grundiert ist von einem vehementen "Nie wieder!".

Gabriele Michel ist Vorstandsfrau der NGO Amica, die Frauen und Mädchen in Kriegs- und Krisenregionen gemeinsam mit Partnerinnen im jeweiligen Land unterstützt. Aktuell arbeitet sie in Libyen, im Libanon, im Kosovo und in Bosnien. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".
 

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10 nach 8
 
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