10 nach 8: Lina Muzur über Kriegsflüchtlinge

 
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24.05.2017
 
 
 
 
10 nach 8


Kinderbücher brennen am besten
 
Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht vor Hunger und Gewalt. Sie alle standen vor der Frage: bleiben oder gehen? Wie meine Großmutter während des Bosnienkriegs.
VON LINA MUZUR

Während des Bosnienkriegs: zwei Frauen 1993 in Sarajewo auf der sogenannten Scharfschützen-Allee © Gabriel Bouys/AFP/Getty Images
 
Während des Bosnienkriegs: zwei Frauen 1993 in Sarajewo auf der sogenannten Scharfschützen-Allee © Gabriel Bouys/AFP/Getty Images
 
 

Meine Großmutter hat immer gesagt, dort, wo wir herkommen, gebe es zwei Sorten von Menschen: Die, die geblieben sind und die, die weggegangen sind. Manche sind im letzten Moment gegangen, gerade noch rechtzeitig, bevor die Blockade verhängt wurde. Andere kannten jemanden, der wiederum jemanden kannte, der mit jemandem verwandt war, der die Grenze passieren konnte, weil er Lebensmittel oder Munition transportierte, und der sich bestechen ließ und einen in seinem Lastwagen hinaus schmuggelte. Wieder andere erfuhren zufällig von einem neuen Tunnel, den die Einwohner der Stadt mit bloßen Händen gegraben hatten, und kamen so raus. Immer war es das Schicksal, ein kurzer Moment, in dem die Karten so oder so lagen, der darüber entschied, ob sie blieben oder weggingen, ob sie den Krieg in all seiner Perfidität kennenlernen oder im Frieden weiterleben würden. So etwas wie einen freien Willen gab es eigentlich nicht mehr.

Natürlich, meine Großmutter war zu dem Zeitpunkt, als ihre Heimatstadt belagert wurde, keine junge Frau mehr. Sie lebte im elften Stock eines sozialistischen Plattenbaus in einem der Außenbezirke und führte ein beschauliches Leben, das vor allem aus ausgedehnten nachmittäglichen Kaffeekränzchen mit ihren zahlreichen Nachbarinnen bestand, die oft bis in den Abend hinein andauerten, wenn die ersten südamerikanischen Telenovelas ausgestrahlt wurden, die sie dann auch noch gemeinsam anschauten, um live über die neuesten Liebesverwicklungen und Rachefeldzüge herzuziehen. Samstags kaufte meine Großmutter im kleinen Lebensmittelladen nebenan ein paar Blumen und spazierte zum Friedhof, um ihren verstorbenen Mann zu besuchen. Und jeden Morgen nach dem Aufwachen gab sie sich selbst eine Insulinspritze, routiniert, wie jemand, der das sein Leben lang getan hatte, im vollen Bewusstsein der Tatsache, dass er ohne diese Spritze nicht überleben würde.

Vielleicht war meine Großmutter einfach zu alt, um in der Fremde noch mal von vorne anzufangen. Vielleicht wollte sie keine fremde Sprache mehr lernen, nicht auf fremden Straßen laufen, sich nicht an den Geschmack von fremden Gerichten gewöhnen müssen und stumm neben fremden Nachbarinnen herleben. Vielleicht wollte sie dort bleiben, wo sie war, umgeben von vertrauten Gegenständen und Menschen. Vielleicht wollte sie sich das Leid und das Grauen, das über ihre Stadt gekommen war, nicht aus der Ferne anschauen, sondern Zeugin dessen werden, was Menschen bereit waren, einander anzutun. Vielleicht war sie aber auch nur naiv und hatte nicht die geringste Vorstellung davon, was Krieg eigentlich bedeutet. Ich weiß nicht, was sie dazu bewogen hat, sich in dem Moment, in dem sie die Wahl gehabt hatte, mit einer geradezu kindischen Beharrlichkeit für den Krieg zu entscheiden. Ich weiß nur, dass sie geblieben ist, und dass ich weggegangen bin.

Ich versuche, mir vorzustellen, wie ihr Leben nach dieser Entscheidung wohl ausgesehen hat. Jede zivilisatorische Regel abgeschafft und abgelöst von Willkür. Nur noch Schwarz und Weiß, Leben und Tod. Permanente Todesangst, eingeschrieben in jedes Gesicht. Tagelang nichts zu trinken zu haben, nicht einmal einen Tropfen, mit dem man sich die Zunge befeuchten könnte. Tagelang die gleiche Kleidung zu tragen, sogar im Schlaf, weil im Notfall die wenigen Sekunden, die das Anziehen gedauert hätte, einen das Leben kosten könnten. Überall Feuer. Matratzen, die herbeigeschafft werden, um das Feuer am Leben zu halten, Klamotten, Möbel, wertvolles Papier. Nicht zu wissen, ob gerade ein Scharfschütze sein Gewehr auf einen richtet, während man über die Straße läuft. Oder sich kurz bückt, um sich die Schnürsenkel zuzubinden. Nicht zu wissen, ob man von einer Granate erwischt wird, während man in der Schlange für Brot ansteht. Oder während man im eigenen Wohnzimmer nur einen Spalt weit den Vorhang beiseiteschiebt, um zu schauen, wie das Wetter draußen so ist. Ich versuche, mir all das vorzustellen, aber es gelingt mir nicht.

Kurz nachdem der Krieg vorbei war, besuchte ich meine Großmutter in unserer Heimatstadt. Die Nachbarinnen hatten sich alle versammelt, um mich zu begutachten. Sie hatten Baklava mitgebracht und Pita und allerlei anderes Zeug, das ich nicht mehr gewohnt war zu essen. Es wurde Kaffee aufgetragen, absurd starker Kaffee, den ich nicht mehr gewohnt war zu trinken, und ich wurde kommentiert, als wäre ich gar nicht anwesend. Ich sei definitiv zu dünn, aber insgesamt ganz gut geraten. Ob ich aus meinen Haaren nicht etwas mehr machen könnte? Was ich bloß für eine schlecht sitzende Hose anhätte, würde mir ein Rock nicht viel besser stehen? Insgesamt sei ich ja doch recht still und würde so ernst schauen, wie eine Deutsche, ob ich jetzt dachte, ich sei was Besseres? Ob ich gar keinen Humor mehr hätte?

Nachdem sie mich ausgiebig betratscht hatten, kamen sie auf den Krieg zu sprechen, als wäre der Krieg die normalste Sache der Welt, denn natürlich wird da, wo ich herkomme, nichts, rein gar nichts unter den Teppich gekehrt. "Erinnerst du dich, wie wir Linas alte Kinderbücher verbrannt haben", fing Marica aus dem achten Stock an, und meine Großmutter erklärte mir, welch gute Dienste ihr die vielen Bücher geleistet hatten, die meine Eltern und ich bei ihr zurückgelassen hatten, als wir weggingen. Sie verbrannte sie ganz systematisch, zuerst die dicken Krimis und die amerikanischen Autoren, die sie nicht mochte, dann erst, schweren Herzens, ihre Lieblinge wie Andrić und Bulgakow. Meine alten Kinderbücher verbrannte sie erst ganz am Schluss, immer hoffend, sie doch noch verschonen zu können. Aber sie brannten am besten, denn sie waren aus dickem Karton.

Menschlichkeit im Krieg

Als die junge Familie nebenan nichts Brennbares mehr hatte, gab sie ihnen bereitwillig ein paar Bukowski-Bände, damit sie ihrer kleinen Tochter etwas Warmes zum Essen machen konnten. Für den alten Vehbija, der kaum noch die Wohnung verließ, und um den sich alle Sorgen machten, suchte sie das dickste Buch raus. Der Alte konnte sein Glück gar nicht fassen, erinnern sich die Frauen lachend: "Gott segne diesen Tolstoi, so einen dicken Schmöker über den Krieg zu schreiben!", rief er aus. "Den kann ich getrost verbrennen, um es mir ein bisschen warm zu machen, sowas braucht hier kein Mensch mehr, ein Buch über den Krieg. Darüber wissen wir weiß Gott besser Bescheid als alle Tolstois dieser Welt."

Plötzlich wurden sie ernst, diese alten Frauen, die überlebt hatten. Sie erinnerten sich daran, wie sie während der Bombardierungen im Keller zusammengesessen hatten. Stundenlang saßen sie einfach nur da, in vollkommener Dunkelheit, und sagten kein Wort. Sie rochen ihren eigenen Gestank, hörten die Granaten fallen und die Kinder schreien, und sie schwiegen. "Was hätten wir schon groß sagen können, wenn doch alle sowieso das Gleiche dachten und fühlten und allen alles klar war", sagte meine Großmutter. "Ich hätte mich geschämt, etwas zu sagen. Worte waren nutzlos geworden, sie reichten nicht mehr aus, um das zu beschreiben, was wir fühlten und durchmachten." In diesem Moment des Zusammensitzens gab es keinen Unterschied mehr zwischen ihnen. Die tägliche Konfrontation mit dem Tod hatte sie so sehr zusammengeschweißt, dass sie den anderen genauso stark spürten wie sich selbst.

Später, als meine Großmutter zu krank wurde und nicht mehr für sich selbst sorgen konnte, waren es die gleichen Nachbarinnen, mit denen sie im Krieg stumm zusammengesessen hatte, die ein System entwickelten, um sie zu unterstützen. Marica brachte ihr jeden Tag einen Topf mit Essen vorbei, Vehbijas Sohn erledigte die Einkäufe, Aiša, die als Chirurgin im Krankenhaus arbeitete, schaute regelmäßig nach dem Rechten, Vlada aus der Wohnung gegenüber erledigte die Post. Sie machten das so, bis es nicht mehr nötig war.

Der Krieg schweißt die Menschen zusammen, er schweißt die Aggressoren zusammen, diejenigen, die töten, und er schweißt die Opfer zusammen, diejenigen, die leiden. Und manchmal werden im Krieg so fest verwurzelte Impulse wie Egoismus und Missgunst, die in Ferienzeiten unseren Alltag bestimmen, von einem Gefühl für Gemeinschaft und Altruismus überdeckt. Das würde bedeuten, dass der Krieg in all seiner Destruktivität und Sinnlosigkeit eine Humanität zum Vorschein kommen lässt, die vollkommen rein und selbstlos ist.

Und das wiederum würde bedeuten, dass meine Großmutter durch ihre Entscheidung, im Krieg zu bleiben, neben all dem Horror eine menschliche Verbundenheit erlebt hat, wie sie diejenigen, die weggegangen sind, niemals erleben werden. Diejenigen, die entwurzelt und auf die Unterstützung und das Mitgefühl von Fremden angewiesen sind, die als Eindringlinge und Störenfriede behandelt und auf offener Straße beschimpft werden. Diejenigen, die sich gefälligst zu integrieren, die gefälligst ihren Glauben und ihre Bräuche abzulegen haben, wegen derer sie überhaupt erst hatten fliehen müssen und wegen derer ihre Verwandten und Freunde in der Heimat massenweise ermordet werden, diejenigen also, die zwar im Frieden weiterleben können, denen aber nichts mehr geblieben ist. 

Welche Entscheidung ist also die klügere: bleiben oder gehen?.

Lina Muzur, geboren in Sarajewo, arbeitet als Leitende Lektorin beim Aufbau Verlag in Berlin. Sie ist Mitglied von "10 nach 8".

 

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