10 nach 8: Sabine Heinlein über New York

 
Wenn dieser Newsletter nicht richtig angezeigt wird, klicken Sie bitte hier.

 

20.05.2017
 
 
 
 
10 nach 8


Eine Nation in Panzertape
 
Hat sich das amerikanische Lebensgefühl im vergangenen halben Jahr verändert? Unsere Autorin lebt in New York und stellt fest, dass sie selbst nicht mehr dieselbe ist.
VON SABINE HEINLEIN, NEW YORK

Bekommt man Donald Trump mit Fleckentferner weg? New York ist nicht mehr dieselbe Stadt seit seiner Wahl. © Frank Köhntopp/Unsplash
 
Bekommt man Donald Trump mit Fleckentferner weg? New York ist nicht mehr dieselbe Stadt seit seiner Wahl. © Frank Köhntopp/Unsplash
 
 

Eine Woche nachdem ich mein Studium in Hamburg beendet hatte, bestieg ich ein Flugzeug nach New York. Als ich angekommen war, wusste ich, dass ich mein Zuhause gefunden hatte. Mein erster New Yorker Taxifahrer war ein Sikh mit einem orangefarbenen Turban, der auf eine charmante Weise mit der Farbe seines gelben Wagens kollidierte. "Woher kommst du?", fragten wir einander.

"Woher kommst du?" wurde der Refrain der Jahre, die folgten. "Woher kommst du?", das ist die Frage, die in den Bars und Büros dieser Neun-Millionen-Einwohner-Stadt widerhallt. Nach heutigem Stand wurden 40 Prozent der New Yorker im Ausland geboren. New York wurde buchstäblich von Immigranten aufgebaut. Wir alle hatten unsere Geschichten, schwierigen Vergangenheiten, verpassten Chancen und Hoffnungen für die Zukunft, aber ganz egal, woher wir gekommen waren, in New York wurden wir zu einer Einheit. Nach fünf Jahren, so sagt man, bist du kein Russe oder Mexikaner mehr, sondern ein New Yorker.

Ob wir vor Folter und Gefängnis geflohen waren, ob wir kriegszerstörte Länder hinter uns gelassen hatten, dysfunktionale Familien oder einfach nur Langeweile, in New York konnten wir unsere Andersartigkeit bejubeln. Dort gehörten wir hin, gestrandet auf unserer einzigartigen, verrückten, liberalen amerikanischen Insel, dieser Insel voller Freaks, die nirgends sonst willkommen waren. Gesegnet mit der Unkenntnis von Neuankömmlingen klebten wir aneinander und an unserer Insel fest – oder zumindest glaubten wir das. 

Amerika schaut lieber nach vorn als zurück

Aber was hielt uns zusammen? Ich glaube inzwischen, dass der metaphorische Leim tatsächlich eine Entsprechung in der Realität hat. Gaffer, ein wundersames, geniales Klebeband, das die USA zusammenhält. Es schafft temporäre Abhilfe bei auseinanderfallenden Autos, auslaufenden Rohren und einstürzenden Zimmerdecken. In seiner enormen Funktionalität ahmt es die Vielfalt New Yorks nach und ist daher in allen Farben und Formen erhältlich. Es gibt Glitzerpanzergaffer, Regenbogenpanzergaffer, Leopardenpanzergaffer und sogar Speckstreifenpanzergaffer.

Und wenn man schließlich die Zeit und das Geld findet, sein Auto, sein Rohr oder seine Decke doch professionell reparieren zu lassen, dann kommt ein Mittel zum Einsatz, das die klebrigen Rückstände des Gaffers spurlos verschwinden lässt: Goo Gone. Die Farbe der Lösung erinnert an Urin, der Geruch ist der einer vergammelten Orange. Kaugummi an deinem Schuh? Harz auf deiner Hose? Teer irgendwo? Kein Problem. Einfach ein bisschen Goo Gone drauf schütten, einreiben und weg ist es. So schnell wird hier Vergangenheit nivelliert. Amerika schaut lieber nach vorn als zurück.

Wenn ich nach Deutschland fuhr und Leute zu mir sagten: "Aber die Amerikaner sind doch alle so künstlich … so ungebildet … so unbelehrbar", wurde ich wütend. Meine Freunde in New York waren alles andere als das. Und überhaupt, jemand, der die ganze Zeit mürrisch ist, ist nicht unbedingt auch tiefgründig. 
  
"Freundlichkeit ist wie Vaseline, sie macht alles geschmeidiger", erklärte mir meine deutsch-amerikanische Freundin, als ich sie nach dem Grund ihrer Liebe zu New York fragte. "Als ich zum ersten Mal hier war und einen großen, schwulen Rastafari sah, der mit Rollerblades und in Lederhosen die Avenue A runtersauste, während er eine Arie aus Franz Lehárs Land des Lächelns schmetterte, wusste ich, dass ich zu Hause angekommen war", fügte Tine hinzu, die seit mehr als 20 Jahren in New York lebt.

Ich hingegen weiß, dass ich zu Hause bin, wenn ich mit einem Eis in der Hand in einen Klamottenladen spaziere. Statt rausgeschmissen oder ermahnt zu werden, die Sachen lediglich mit den Augen und nicht mit den Händen anzuschauen, fragt mich die Verkäuferin mit einem breiten Lächeln im Gesicht, wie es mir heute gehe. Falls man nicht gerade von einem Bus überfahren wurde, lautet die Antwort auf diese Frage immer: "Sehr gut, danke der Nachfrage",  vor allem, wenn draußen die Sonne scheint (was in New York meistens der Fall ist) und wenn man gerade ein Eis isst. Falls ich mich recht entsinne, lautet die Antwort auf diese Frage in Deutschland hingegen höchst selten: "Sehr gut!" Ganz im Gegenteil, das einfache "Wie geht’s?" hat oft eine endlose Aufzählung von Beschwerden zur Folge. "Meine Knie knirschen, die Miete ist zu teuer, das Wetter schlecht, der Hund krank …"

In den USA und besonders in New York ist alles möglich. Selten wird man jemanden sagen hören: "Das geht nicht, weil Sie nicht den richtigen Abschluss / nicht die richtigen Papiere/ nicht das richtige Alter haben / die Ampel gerade auf Rot steht." (In New York stellt das Ampelsignal lediglich einen Vorschlag dar.)

Ich war im Laufe meiner New Yorker Jahre zu einem Verhandlungsprofi geworden. Trotzdem staunte ich, als man im Baumarkt anstandslos den Staubsauger zurücknahm, den ich vor Monaten erworben hatte, obwohl ich nicht einmal mehr den Kassenzettel hatte. Und Amazon fragte auch nicht weiter nach, als ich ein Kabel zurückschickte, dass mein Hase durchknabbert hatte. Hier geht eben alles.

Plötzlich ist das Aufstehen schwierig geworden

Es ist kein Zufall, dass wir hier Die kleine Dampflokomotive haben, ein Kinderbuch, dessen Schlüsselsatz, ausgesprochen von einem kleinen vermenschlichten Zug, der gerade einen steilen Berg hochfährt, lautet: "Ich schaffe das, ich schaffe das, ich schaffe das …". Dieses Mantra ist so tief verwurzelt im amerikanischen Bewusstsein, dass es geradezu undenkbar wäre, zu behaupten, man würde etwas nicht schaffen, bevor man es nicht wirklich versucht hat – und zwar nicht einmal, nicht zweimal, sondern unzählige Male. "Wenn du runterfällst, stehst du wieder auf, klopfst den Staub ab und fängst von vorn an", lautet ein amerikanisches Sprichwort. (Es ist nicht die Vergangenheit, die zählt, sondern die Zukunft.)

Seitdem Donald Trump zum Präsidenten gewählt wurde, habe ich versucht, wieder aufzustehen und den Staub von mir abzuklopfen, aber es fällt mir, so wie den meisten meiner Freunde, schwer. Was, wenn die Leute nur deshalb immer so freundlich waren und so stark aneinander klebten, weil es die einfachste Lösung war? Was, wenn ihre Freundlichkeit einen reinen Selbstzweck erfüllte und gar nichts mit mir zu tun hatte? Was, wenn ihre vorwärts gerichtete Art, mit deren Hilfe sie all das verdrängen konnten, was ihre Vorfahren angerichtet hatten, sie nun doch einholte?

Sogar das unschuldige "Woher kommst du?" wurde plötzlich zu einer heiklen Frage. Um die Taxifahrer, die in New York überwiegend aus muslimischen Ländern stammen, nicht bloßzustellen, passte ich meinen Small Talk der neuen Situation an. Ich wollte betonen, dass man in New York willkommen ist, egal, woher man kommt und welcher Religion man angehört. Ganz die muntere New Yorkerin, die ich immer noch zu sein meinte, fiel ich also mit ein, als ein Taxifahrer anfing, über den Verkehr zu schimpfen. "Als wären wir im Wilden Westen!", rief ich. Doch er entgegnete nur: "Wir New Yorker machen unsere eigenen Regeln". Ein andermal ging ich das Thema direkt an: "Sind Sie seit Trumps Wahl Opfer von Diskriminierungen geworden?", fragte ich. "Nein, wir sind schließlich in New York!", sagte er voller Stolz.

Paranoid seit Trump

Dennoch hatte Trumps Hassrede gegen Zuwanderer und Muslime sogar einige New Yorker ermutigt. Nach einer Reihe von Angriffen gegen Immigranten wurde am 16. April 2017 ein Sikh in seinem Taxi von einem Mann angegriffen, der ihn für einen Muslim gehalten hatte. Zuerst schlug er auf ihn ein, dann riss er ihm den Turban vom Kopf und verkündete: "Das hast du jetzt davon, du Ali Baba!" Und ich erinnerte mich an meinen ersten Taxifahrer mit seinem orangefarbenen Turban. 

Trumps unerwartete Wahl zum Präsidenten machte mich paranoid. Wenn es nicht meine Freunde und Kollegen waren, wer waren dann die 62 Millionen "freundlichen" Amerikaner, die für ihn gestimmt hatten? Was hatte ich in all den Jahren übersehen? Obwohl ich die USA ausgiebig bereist habe und als Journalistin über allerlei Randgruppen berichtet hatte, hatte ich offensichtlich die ganze Zeit in einer Blase gelebt.
Auf meiner Retina tauchten kleine Bläschen auf, eine seltene Krankheit, die oft mit Stress und Angstzuständen in Verbindung gebracht wird. Als meine Sicht immer verschwommener wurde, schleppte ich mich zum Augenarzt. Ich stöhnte, als er eine Klammer anbrachte, mit der er mein Augenlied fixierte. Dann sah ich eine riesige Spritze auf mich zukommen. Ich zuckte zusammen. Was, wenn der Augenarzt auch Trump gewählt hat? Es gibt nur eine Sache, die in dem Moment für mich schlimmer gewesen wäre, als eine Spritze ins Auge zu bekommen, und das war: von einem Trump-Anhänger eine Spritze ins Auge zu bekommen. "Sie wirken aber ganz schön angespannt", sagte er. Was du nicht sagst!, dachte ich.

Kein Small-Talk-Spiel mehr

"Was haben Sie so getrieben in letzter Zeit? Haben Sie die Stadt rot angemalt?", fragte er mich bei meinem zweiten Besuch. "Sicher nicht rot", antwortete ich schnippisch. (Rot ist die Farbe der Republikaner.) "Höchstens blau." (Die Farbe der Demokraten.) "Die Stadt rot anmalen ist eine Redewendung", sagte er beleidigt. "Es heißt feiern, auf die Pauke hauen!" Nach feiern war mir nun wirklich nicht zumute nach diesen Wahlergebnissen und all den Spritzen. "Rot erinnert mich eben an schlechte Sachen!" Ich hatte beschlossen, dass ich das amerikanische Small-Talk-Spiel nicht länger mitmachen würde. Und er hatte vielleicht beschlossen, dass ich verrückt war.

Also sagte ich ihm, dass sein Wartezimmer nur noch halb so voll sein würde, sobald Trump die Gesundheitsversorgung von 24 Millionen Amerikanern abgeschafft hat. Zu meiner großen Überraschung ließ ihn meine politische Spitze von seinem Stuhl hochspringen. "Trump ist ein Arschloch! Ein peinliches, gefährliches Arschloch!", schrie er. Amerika müsse endlich zur Vernunft kommen und wie der Rest der zivilisierten Welt eine allgemeine Krankenversicherung einführen. Viele seiner Patienten litten unter den jetzigen Verhältnissen. "Ja", sagte ich, "aber bald werden sie vergessen haben, warum sie ihre Krankenversicherung verloren hatten!" Wir lachten beide zynisch.

Danach ging ich pfeifend nach Hause. Der amerikanische Widerstand war noch am Leben und wohlauf. Morgen würde ich meinen Kongressmann, meine Senatorin und meinen Senator anrufen. Danach würde ich Amazon mitteilen, dass ich den elektrischen Katzenzaun, der meine Katze so unbeeindruckt gelassen hatte, zurückschicken würde. Ich darf nur nicht vergessen, den Zebragaffer zu beseitigen, mit dem ich das Kabel an der Wand befestigt hatte, und die Kleberückstände mit Goo Gone zu entfernen.

Aus dem Englischen von Lina Muzur
 
Sabine Heinlein ist freie Autorin. 2013 erschien ihr Buch "Among Murderers: Life After Prison" ("Unter Mördern: Leben nach dem Gefängnis"). Ihre Essays und Artikel wurden u. a. in der "New York Times", "Psychology Today", "The Guardian" und "Longreads" veröffentlicht. Sie lebt mit ihrem Mann in New York und ist Gastautorin von "10 nach 8".

Sie wollen der Diskussion unter dem Text folgen? Hier geht es zum Kommentarbereich.
10 nach 8
 
Frauen schreiben jetzt auch abends. Montags, mittwochs, freitags. Immer um 10 nach 8. Wir, die Redaktion von 10 nach 8, sind ein vielseitiges und wandelbares Autorinnen-Kollektiv. Wir finden, dass unsere Gesellschaft mehr weibliche Stimmen in der Öffentlichkeit braucht. 

Wir denken, dass diese Stimmen divers sein sollten. Wir vertreten keine Ideologie und sind nicht einer Meinung. Aber wir halten Feminismus für wichtig, weil Gerechtigkeit in der Gesellschaft uns alle angeht. Wir möchten uns mit unseren LeserInnen austauschen. Und mit unseren Gastautorinnen. Auf dieser Seite sammeln wir alle Texte, die 10 nach 8 erscheinen.