Freitext: Senthuran Varatharajah: Ich wurde zum Meer

 
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20.05.2017
 
 
 
 
Freitext


Ich wurde zum Meer
 
 
Flucht bedeutet auch den Verlust der Sprache. In dem Projekt „Weiter Schreiben“ treffen sich geflüchtete und deutsche Autoren. Text wird übersetzt, Horizont geöffnet.
VON SENTHURAN VARATHARAJAH

 
© Sandra Weller
 
Goldene Flächen, in einer Reihe, abends. Die Fenster neben den Kränen werfen Sonnenlicht zurück. Es ist 19 Uhr. Hier oben endet Berlin am Horizont. Vor den Menschen, die sich an der Brüstung dieser Dachterrasse im 16. Stock eines Hochhauses an der Grenze von Kreuzberg zu Mitte anlehnen, liegt die Stadt ausgebreitet wie eine zufällige Sammlung Stahl, Beton und Asphalt unter einem von Kondensstreifen durchkreuzten Himmel. Es ist fast Sommer, Mai, 28 Grad. Ich sitze jetzt einsam / am runden Tisch / ich sitze rund / um mich selbst herum / gleiche jetzt einem Tisch, an dem niemand sitzt / sitze jetzt / irgendwie / rieche nach Tabak /und Verlust. Das Gebäude ist ein Asylbewerberheim. Die Terrasse gehört zur Bibliothek Baynetna.
 
In dieser arabischen Bibliothek stellt die Schriftstellerin Annika Reich zusammen mit Ines Kappert, Leiterin des Gunda-Werner-Instituts, Weiter Schreiben vor; es ist die Auftaktveranstaltung dieser Initiative, die Autorinnen und Autoren, die ein Land verlassen mussten, in ein Gespräch mit deutschsprachigen Schriftstellerinnen und Schriftstellern bringt, um gemeinsam an Texten und deren Übersetzungen zu arbeiten, aber auch, um sie vertraut zu machen mit dem, was Literaturbetrieb genannt wird, dessen Strukturen und Besonderheiten.
 
Der Raum ist dicht bestuhlt; durch die Fingerabdrücke auf dem Glas ist der Atrium Tower auf einem dunkler werdenden Hintergrund zu sehen, als der jemenitische Lyriker Galal Al-Ahmadi, 1987 in Saudi-Arabien geboren, auf einem roten Sofa Vom Krieg zu erzählen beginnt, ruhig, mit gleichbleibender Stimme. Diese Sprache der Erschöpfung – wie in der deutschen Übersetzung, von der Schriftstellerin Svenja Leiber vorgelesen, für jemanden, der nicht Arabisch spricht, verständlich wird – folgt dem Verlauf einer Kugel, fast teilnahmslos, als könnte diese Sprache nur noch feststellen; das Mindeste sagen: Die Kugel dringt ein / durch / den Ansatz der Seele / den Blick / ein Fenster, geschaffen zu diesem Zweck / dringt ein / durch / das Buch eines anonymen Schriftstellers / dilettantisches Erzählen / Fantasielosigkeit. / Die Kugel dringt / in den Rücken / den Wirbel / da, wo sie halbseitig lähmt.
 
In dieser stillen Deskriptivität wurde auch das andere Gedicht, das Al-Ahmadi liest, geschrieben. Zu Hause – die Titel, die Al-Ahmadi beiden Texten gab, müssen zusammengelesen werden, in dieser Reihenfolge: Vom Krieg zu Hause – dort, wo jemand an einem Tisch sitzt, einsam / am runden Tisch, abwesend, ohne Bewegung, bis der Körper von diesem kaum mehr unterschieden werden kann, dieses zu Hause gibt es nicht: Ein abgetrennter Kopf in meinem Kühlschrank. / Ich weiß nicht, was er an so einem kalten Ort macht. / Das heißt, jemand hatte gestern / im Schlaf keine Albträume. / Ich kann mit dem Ding auf der Schulter / durch die Straßen gehen / und mit allen sprechen / ohne dass jemand etwas bemerkt. / Bemerkt, dass die Wörter nicht an der richtigen Stelle herauskommen.
 
Aber sie kamen, aus einer Stelle, aus einer Entfernung: fünftausend Kilometer weit, bis an diesen Ort und bis in diese Sprache. Es ist noch hell, hell genug, um die Wolkenformation zu erkennen, die aus dem 106 Meter hohen Turm des Atrium Towers zu steigen scheint. Die ersten Lichter wurden in den Häusern um das Asylbewerberheim in der Stresemannstraße angeschaltet, und auch in den U-Bahnen, die vom Gleisdreieck zur Möckernbrücke und in die entgegengesetzte Richtung fahren, brennt Licht, helle Flächen, in einer Reihe; Bewegung.
 
Die Lyrikerin Lina Atfah, 1989 in Syrien geboren, kam über den Libanon nach Deutschland. Mit siebzehn wurde sie der Gotteslästerung und Staatsbeleidigung beschuldigt und von der Teilnahme an allen kulturellen Veranstaltungen ausgeschlossen. Die Bilder der Trauer, die sie im Gedicht Nach der Asche, das die Schriftstellerin Ulla Lenze auf Deutsch liest, verwendet, lösen sich in schneller Folge gegenseitig ab, und trotz dieser geräuschlosen Geschwindigkeit bleiben sie, jedes für sich, bestehen und allein. Es gibt keine Überlappungen. Sie erhalten ihre Bedeutung von der Imagination des Todes – vom Tod als Objekt der Imagination, als der Imaginierte, aber auch als ihr Subjekt: als der Imaginierende. Aus ihm leiten sie sich ab: Die Lieder sind dort der Tod. / Sie sind die Zugvögel, / die von Geburt an das Ziel ihrer Wanderung kennen, / die vertraut sind mit Orten, an denen sie nie waren. / Du hörst ein Lied / und du hast Sehnsucht nach deiner Kindheit, / nach dem Leben der Menschen, die du geliebt hast. / Die Jahre vergehen wie im Tiefschlaf. / Du siehst die ertrunkenen Saatfelder. Ein Glas zerbricht. Der Vers ist noch nicht zu Ende. Atfah liest weiter, ohne vom Papier aufzusehen, als wäre nichts geschehen. Es ist auch nichts geschehen.
 
„Weiter Schreiben“ – das sei die Antwort gewesen, die Annika Reich von Schriftstellerinnen und Schriftstellern auf die Frage, was sie sich wünschen würden, erhalten habe. Der Name dieses Projekts besitzt mindestens einen doppelten Sinn: das Adjektiv weiter kann als Positiv, aber auch als Komparativ verstanden werden – als Fortsetzung oder Fortdauer des Schreibens ebenso wie als Erweiterung oder Ausdehnung durch das Schreiben. Der Verlust, der Flucht immer bedeuten wird, wiederholt sich für Schriftstellerinnen und Schriftsteller auch in der Sprache: als Verlust von Leserinnen und Lesern und als Verlust von Bedeutung – nachdem ein Text übersetzt wurde. Die Unmöglichkeit der Übersetzung aber ist ihre Möglichkeit.

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