Titelentzug en gros | Siegerhochschulen "Eine Uni, ein Buch" | Pekings Kader inspizieren Unis | 3 ½ Fragen an Andreas Zaby | Gastkommentar Ernst-Ludwig Winnacker über 10 Jahre ERC

 
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Liebe Leserinnen und Leser,
üblicherweise brauchen Wissenschaftseinrichtungen unter 50 noch nicht einmal anfangen, über eine Feier nachzudenken. 75 Jahre, besser noch 100 sollten es bitteschön schon sein. Wenn der European Research Council (ERC) in diesen Tagen seinen 10. Geburtstag feiert, zeigt der Grünschnabel mal wieder Chuzpe. Die braucht es auch, um sich in der Brüsseler Administration Respekt zu verschaffen und zu bewahren. Lesen Sie mehr über die ersten Jahre des Europäischen Forschungsrats und seine Zukunft im Gastkommentar von Ernst-Ludwig Winnacker.  Andreas Zaby beantwortet die Dreieinhalb Fragen, und in der Gemeinschaftsaktion "Eine Uni, ein Buch" von der ZEIT, dem Stifterverband und der Klaus Tschira Stiftung sind zehn  Siegerhochschulen ermittelt.
   
 
 
   
 
   
   
 
Das ist wichtig
 
 
   
 
  
Titelentzug en gros
Frühjahrsputz im bundesdeutschen Plagiate-Stadl: Die Universität Münster hat auf einen Streich gleich acht Medizinern den Doktortitel entzogen, weil diese in ihren Dissertationen allzu kräftig von anderen abgeschrieben hatten. 14 weitere Delinquenten kamen mit einer Rüge davon (Rheinische Post, Deutschlandfunk, Spiegel Online). Den Anstoß für den Titelentzug en gros gab vor rund drei Jahren die Internetplattform VroniPlag, die sich damit einmal mehr als zuverlässiger Watchdog für eine integre Wissenschaft empfiehlt. Das Münsteraner Ereignis bestätigt allerdings auch den zweifelhaften Ruf von Promotionen in der Medizin. Deutschlands Dr. med. zählt längst zu den Schmuddelkindern in der internationalen Wissenschaftsgemeinde. Mehrfach bemängelt wurde die Qualität der Doktorarbeiten auch vom Wissenschaftsrat. (Positionspapier aus dem Jahr 2011.) Es brauchte fünf Jahre, bis sich der Medizinische Fakultätentag die Gedanken zu eigen machte, und sich im April 2016 per Beschluss  zu strukturierten Promotionsprogrammen bekannte. Eine Sensation. Dass der MFT die Qualitätsdefizite bei wissenschaftlichen Arbeiten endlich angeht, wird auch in seiner Stellungnahme zur Münsteraner Entscheidung deutlich: Darin begrüßt der MFT das „konsequente Vorgehen“ der Universität und geißelt Plagiieren zugleich als unwissenschaftliches Verhalten, das „dem Ansehen des Fachs schade“ und „Folgen haben“ müsse. So ist es.
  
 
 
Pekings Kader inspizieren Top-Unis
Die Signale sind eindeutig und sie mehren sich: Das Projekt Wissenschaftsfreiheit in China ist auf unbestimmte Zeit vertagt. Ende Februar kündigte das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei weitere „Inspektionen an Universitäten“ an, wie University World News berichtet. Besucht werden auch die besten Universitäten des Landes wie die renommierte Tsinghua University oder die Nanjing University. Die entsandten Kader sollen kontrollieren, ob Hochschulen und ihre Beschäftigten der Parteilinie folgen. Die Bereisung läuft offiziell zwar unter dem Label Korruptionsbekämpfung, Experten aber hegen keinen Zweifel daran, dass es um ideologische Kontrolle geht. Den Druck auf die Wissenschaft verstärkt Peking seit einiger Zeit. Vor zwei Jahren forderte Chinas Bildungsminister Yuan Guiren von den Universitäten, Bücher und Schriften zu meiden, die „westliche Werte“ propagieren (South China Morning Post). Unter der zunehmenden Oppression neigen sich Universitäten und verhängen Maulkörbe an Wissenschaftler. Mitte Januar wurde zum Beispiel öffentlich bekannt, dass sie Sun Yat-sen University in Guangzhou ihren Beschäftigten verbietet, Kritik an der Partei zu üben (South China Morning Post). China gehört zu den wichtigsten Zielländern deutscher Wissenschaftler. Nach Angaben von Wissenschaft-Weltoffen befanden sich 2014 mehr als 400 deutsche Forscher in China, mehr Hochschullehrer aus der Bundesrepublik finden sich international nur in Russland (548) und in den USA (1279).
  
 
 
Reformiert die KapVO!
Parteien und Politiker in Bund und Ländern, aufgepasst: Im anstehenden Bundestagswahl gibt es ein noch unbesetztes wissenschaftspolitisches Thema – die Kapazitätsverordnung, kurz KapVO. Wer das Regelmonster aus den 70er Jahren anpacken will, kann sich zum Beispiel mit Gerhard Sagerer kurzschließen. Der Rektor der Uni Bielefeld ist Sprecher der Universitätsrektoren in Nordrhein-Westfalen und sagte der KapVO jetzt den Kampf an (Westfälische Rundschau). Für eine Reformdiskussion mindestens genauso gut zu haben wäre Ulrich Radtke, Vizepräsident der Hochschulrektorenkonferenz. Auch er hält die Berechnungsgrundlagen zur Auslastung von Hochschule für überholungsbedürftig (DSW-Journal). Der Reformdruck erhöht sich von Semester zu Semester genau in dem Maß, in dem die Studierendenzahlen steigen. Aktuell also ganz erheblich. Der Grund: Die KapVO lässt keine Verbesserung der Betreuungsrelationen zu. Stellen Hochschulen Professoren  ein, müssen sie gleich auch mehr Studierende aufnehmen. Das ist, ganz einfach formuliert, der Mechanismus der Kapazitätsrichtlinien. Sie konterkarieren so gesehen den Versuch, die Lehr- und Lernbedingungen an Hochschulen in Deutschland über zusätzliches Personal zu optimieren und so die Abbrecherquoten zu senken. Verdeutlicht sei die Brisanz des Themas vielleicht noch mit einer Zahl, die das Statistische Bundesamt in diesen Tagen veröffentlichte: 453 000 Schüler erwarben 2016 die Hochschul- oder Fachhochschulreife. Das sind 1,9 Prozent mehr Studienberechtigte als im Vorjahr. Noch Fragen?
  
 
 
Langweiler vielleicht, aber unschuldig
Und wenn man es noch so gern anders hätte: Diskussionen nach dem Henne-Ei-Schema sind auch in der Akademia nicht immer zu vermeiden. Das Nachdenken über Originalität, Brillianz und Risikofreude in der Wissenschaft zum Beispiel scheint geradezu automatisch in solch einen Kreisel zu führen. Sind jüngere Forscher langweiliger als ältere, und wer ist eigentlich schuld daran? Die Jungen oder die Alten? Einen kurzweiligen, interkontinentalen Schlagabtausch dazu liefern sich im Fachmagazin Times Higher Education gerade Richard Robison, pensionierter Professor der australischen Murdoch University, und Ciaran Gilles, Stipendiat an der britischen University of Surrey. „I was at a conference recently and there were all these bright young academics there and I was just struck by how cautious they were,” sagt Robison und: “Ironically, the people who are writing the most outrageous stuff tend to be older academics who’ve got nothing to lose, who can publish in these journals simply because of their reputation.” Dem Gegenthese von Gilles dazu lautet: “Early Career Researchers are actively instructed by reviewers, at a stage in their careers when they are highly vulnerable to internalising personal criticism, in what type of research is acceptable (and what is not).” Mehr zu Robisons Haltung finden sie hier, und Gilles Replik dort.
  
 
 
Sieger-Hochschulen "Eine Uni, ein Buch"
Sie wissen ja, wir finden: Lektüre muss sein. Aber: Welche denn genau? Die ZEIT ist daher Kooperationspartnerin für eine schöne Idee von Stifterverband und Klaus Tschira Stiftung, sie lautet: Eine Uni, ein Buch. Die Idee: Möglichst viele Mitglieder einer Hochschule über alle Hierarchiegrenzen hinweg ins Gespräch zu bringen und sie für ein gemeinsames Thema zu begeistern, indem die ganze Hochschule ein Semester lang dasselbe Buch liest. 24 Bewerbungen haben uns erreicht, aus denen die Jury (CHANCEN Brief vom 2. März) die zehn besten Leseideen ausgewählt hat. Voilà, mit je 5.000 Euro gefördert werden:
Fachhochschule Aachen liest Blackout - Morgen ist es zu spät von Marc Elsberg
Bard College Berlin liest Der Staat von Platon
Technische Universität Dortmund liest Die Fabeln des Äsop
Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde liest den neuesten Bericht an den Club of Rome Ein Prozent ist genug von Graeme Maxton und Jorgen Randers
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg liest Die Maschine steht still von E.M. Forster
Stiftung Universität Hildesheim liest Erfindet euch neu! von Michel Serres
Deutsche Sporthochschule Köln liest Meine Olympiade von Ilija Trojanow
Universität zu Köln liest Kind aller Länder von Irmgard Keun
Universität Siegen liest das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
Julius-Maximilians-Universität Würzburg liest Was ist Populismus?, einen Essay von Jan-Werner Müller
Herzlichen Glückwunsch!
  
   
 
 
   
 
   
   
 
Die Zahl
 
 
   
500 Euro

im Monat bekommt eine Doktorandin nach GEW-Angaben bei der Archäologischen Länderforschung Hessen als Promotionsstipendium. Dafür muss sie Grabungsfunde sichten und aufarbeiten.
 
   
 
 
   
 
   
   
 
3½  Fragen an…
 
 
   
Prof. Dr. Andreas Zaby

Präsident der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin
Eine Erkenntnis, zu der Sie jüngst kamen?
Ein israelischer Kollege – kein Informatiker – sagte mir jüngst: „Not knowing how to code software is like not being able to speak English.“ Wenn wir über Kompetenzen für die Digitalisierung sprechen, dann müssen wir darüber ernsthaft nachdenken – an Schulen und Hochschulen!

Welches wissenschaftliche Problem lässt sich ohne Geld lösen?
Die deutschen Hochschulen werden mit einer Vielfalt an Programmen beglückt. Sie tragen kraftvolle Namen wie Pakt, Initiative und Offensive und sollen Qualität, Exzellenz, Innovation, Studienerfolg, Nachwuchsförderung, Chancengleichheit und anderes Erstrebenswertes fördern. Sie sind gut gemeint, nicht selten mit hunderten Millionen Euro dotiert und stets befristet. Der Ressourcenbedarf für die Schaffung und Administration der Programme ist enorm – bei Mittelgebern und -empfängern. Hochschulleitungen, Dekanate und Verwaltungen setzen einen großen Teil ihrer Zeit dafür ein. Professorinnen und Professoren sind in einem noch nie dagewesenen Umfang mit Antragsstellungen beschäftigt. Wie wäre es mit einer Umsteuerung all dieser Mittel in eine solide Grundfinanzierung unserer Hochschulen?

Lektüre muss sein. Welche?
Immer wieder Geschichte und Biographien aller Art. Zuletzt: Alexander Hamilton von Ron Chernow. Übrigens: der junge und mittellose Hamilton kam, unterstützt durch ein Stipendium, zum Studium in die amerikanischen Kolonien, blieb und prägte sie wie kaum ein anderer.

Und sonst so?
Apropos Amerika: vom Rathaus Schöneberg her höre ich in meinem Büro das tägliche Mittagsleuten der Freiheitsglocke. Eine stete Erinnerung an den Wert der transatlantischen Freundschaft und zugleich eine Ermahnung, sich immer wieder für sie einzusetzen.
   
   
 
 
   
Sie stehen woanders? Schreiben Sie uns! chancen-brief@zeit.de
– oder twittern Sie unter #ChancenBrief
   
 
 
   
 
 
   
 
   
   
 
Gastkommentar
 
 
   
   
von Ernst-Ludwig Winnacker
   
   
   
Vom ungeliebten Kind zur Kostbarkeit
In diesen Tagen kann der Europäische Forschungsrat auf sein zehnjähriges Jubiläum zurückblicken. Er ist Teil der Forschungsförderprogramme der EU (Horizon 2020) und fördert grundlagenorientierte Spitzenforschung allein auf der Basis von wissenschaftlicher Qualität, ohne Rücksicht auf bestimmte thematische Vorgaben. Der Start verlief recht holprig, denn der ERC war das ungeliebte Kind der EU-Administration. Urplötzlich hatte sie nicht mehr das alleinige Sagen. Zum ersten Male konnte ihr jemand hineinreden, nämlich ein wissenschaftlicher Rat aus 22 höchst angesehenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Diesem Rat waren weitreichende Kompetenzen gegeben worden, darunter die Auswahl der Förderprogramme und der Gutachter. Die administrative Oberaufsicht allerdings verblieb bei der Kommission.
Inzwischen hat man sich aneinander gewöhnt. Heute liest sich die kurze Geschichte des ERC daher wie eine Erfolgsgeschichte. Tausende von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus ganz Europa wurden und werden nach einem strengen, zweistufigen Auswahlverfahren gefördert, darunter auch einige spätere Nobelpreisträger. Die Reputation einer ERC-Bewilligung ist enorm. Wer sie erhält, hat den Marschallstab im Gepäck und kann meist auf bevorzugte Beförderung hoffen.
Die Bewilligungsquoten beim ERC sind gering. Ich würde aber raten, sie nicht zu vergrößern. Einerseits ist die Zahl qualifizierter Wissenschaftler in Europa nicht beliebig groß. Zum anderen könnte dies Begehrlichkeiten der Nationalstaaten wecken, weil die Verteilung der bewilligten Mittel außerordentlich asymmetrisch ist. Mehr als 95 Prozent der Gelder gehen in die alten EU-15. Die Ursache hierfür ist nicht etwa ein Mangel an Talent, denn dieses ist vermutlich gleichmäßig über die Mitgliedstaaten verteilt, sondern die mangelnde Infrastruktur in den neuen Mitgliedstaaten. Diese Situation scheint sich rapide zu verbessern. Aber ein wenig wird es noch dauern, bis diese nach einem halben Jahrhundert sozialistischer Misswirtschaft wieder gleichgezogen haben.
Große Sorge bereitet der bevorstehende Brexit. Antragstellerinnen und Antragsteller aus dem Vereinigten Königreich sind immer besonders erfolgreich und stehen meist an der Spitze der einschlägigen Statistiken. Der ERC, der in besonderem Maße auf Qualität angewiesen, kann daher auf diese nicht verzichten. Hier müssen geeignete Brücken gebaut werden, die es Forscherinnen und Forschern aus dem UK auch in Zukunft erlauben werden, Anträge zu stellen. Mit der Schweiz ist es kürzlich gelungen, entsprechende Abmachungen zu treffen. Der Verlust eines Leuchtturms von der Größe Großbrittanniens würde den ERC empfindlich treffen.

Ernst-Ludwig Winnacker war als Gründungsgeneralsekretär bis 2009 beim ERC.
   
   
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Diese Woche in der ZEIT
 
 
   
   
Du bist, was du liest Unser Autor Michael Allmaier hat sich durch die Privatbibliotheken von drei Professoren gewühlt – und viel über ihre Besitzer erfahren

Einsen für alle Was soll die Schule Kindern beibringen? Wissen oder Können? Zwei Bildungsexperten streiten sich »Nicht unser Held!« Was die Studenten in Halle-Wittenberg gegen Luther haben Kolumne Scheinselbstständig Boxkampf mit Schwergewicht, von Daniel Erk

Zur aktuellen Ausgabe
   
 
 
 
   
 
   
   
 
c.t.
 
 
   
 
Form follows function - der Rhetoriker und Rapper A.D.Carson hat erfolgreich seine Dissertation verteidigt, die nicht nur wegen ihrer wissenschaftlichen Originalität den Doktortitel wert ist (Chronicle). Die Diss besteht aus einem Rap-Album mit 34-Titeln, transkribierten Texten, einem Video-Kanal und einer Foto-Galerie. Endlich mal was anderes, als hunderte von Textseiten. Dass Carson bei der Verteidung der Arbeit an der Clemson University (South Carolina) rappte, versteht sich von selbst. Yeah!

Quelle: A.D. Carson
 
 
 
 
 
 
 
 
 
   
Eine sensationelle Woche mit Frauentag wünscht

Ihr CHANCEN-Team

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