10 nach 8: Valerie Graf über Transzendentale Meditation

 
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27.03.2017
 
 
 
 
10 nach 8


Die Sektenführer unserer Zeit
 
Meine Mutter hat für den Maharishi ihre Familie aufgegeben. Statt vor ihm zu warnen, werben Stars wie David Lynch oder Lena Dunham für seine Transzendentale Meditation.
VON VALERIE GRAF

Maharishi Mahesh Yogi, der Begründer der Transzendentalen Meditation, starb 2008 in den Niederlanden. © Peter Wijnands/AFP/Getty Images
 
Maharishi Mahesh Yogi, der Begründer der Transzendentalen Meditation, starb 2008 in den Niederlanden. © Peter Wijnands/AFP/Getty Images
 
 

Wie dankbar sein Gesicht aussah, nachdem es aus meinem Schoß wieder aufgetaucht war. Es tat ihm nicht leid, er war nicht beschämt. Er war dankbar für etwas, das ich nicht gegeben hatte. Seine Zunge, seine Finger kamen mir jetzt vor wie Tentakel, die erst vorsichtig die Luft zwischen uns betastet und mich dann unter Wasser gezogen hatten. Es gab nicht viele Kinder in der Gemeinschaft der Transzendentalen Meditation. Vielleicht hatte er geduldig darauf gewartet, dass mir endlich Brüste wuchsen. Ich war eine Spätzünderin, eine überfällige Kerbe im Holz von Gabors heiligem Bewusstsein.  

Gabor, der bewunderte Sohn eines ranghohen Mitglieds. "Er muss furchtbar einsam sein", sagte meine Mutter, als ich endlich Worte gefunden hatte für das, was passiert war. "Es ist bestimmt nicht leicht an der Spitze der Macht." Das nächste Mal, empfahl sie später, sollte ich einfach die Augen schließen und an etwas Schönes denken. Gabor hätte uns in die höchsten Kreise einführen können. Der Meister, der nur zu den ranghöchsten Mitgliedern sprach (und zu prominenten Großspendern wie David Lynch und Paul McCartney), war plötzlich zum Greifen nah gewesen. Wenn ich doch nur etwas Mitgefühl gehabt hätte mit einem einsamen Mann Ende zwanzig.

Eine Audienz bei Maharishi Mahesh Yogi hätte meine Mutter reinwaschen können von ihrer Nachkriegskindheit: Kirchgänge, Konservenberge und Spanplattenregale; in der ersten Reihe Schundromane, in der zweiten der Schnapsvorrat meines Großvaters, in der dritten ein vergilbtes Exemplar von Mein Kampf. Eine Audienz hätte ihr schlechtes Familienblut ausgetauscht, das Blut der Trinker und Schläger, das Blut der Zonengrenzer und Hamsterkäufer, das Blut der Christen und Demokraten.

Der Meister verdammte die westliche Welt

Was war ein Jesus wert, der das Land nicht vor der Schande bewahrt hatte? Was war eine Demokratie wert, die gefühlsamputierte Roboter nach oben brachte und die Nöte des Volks – also das meiner Mutter – unbeachtet ließ? Demokratie war ihr Synonym für alles, was in der Welt schieflief. Der Meister, zu dessen ersten Lobbyisten ein Diktator gehört hatte, verdammte die Existenz einer politischen Opposition, verdammte die westliche Welt, verdammte "Rassenvermischung", Homosexualität, überhaupt Sexualität, und natürlich die Medien: Eine Zeitung zu kaufen, wäre für meine Mutter ebenso undenkbar gewesen, wie wählen zu gehen.

Die Welt stand kurz vorm Untergang; Kali Yuga hieß das bei uns, die Zeit des Verderbens. Der Meister war gerade noch rechtzeitig gekommen, um der Welt Frieden und Erleuchtung zu bringen, um jede unserer Krankheiten, bis hin zu Aids oder Krebs, zu heilen und uns unsterblich und schwer reich zu machen: Wo Geld ist, sagte er gern, ist auch Bewusstsein. Der Meister würde uns beibringen zu fliegen, durch Wände zu gehen oder das Wetter zu beeinflussen. Er konnte das alles längst – aber er war, sagte meine Mutter, zu bescheiden, um damit zu prahlen.

Der Meister war so mächtig, dass seine Gegner starben wie die Fliegen. Die Ermordung John Lennons etwa: eine gerechte Strafe dafür, dass er sich vom Meister abgewandt hatte. Wer am Meister zweifelte, würde an Krebs erkranken, brachte meine Mutter mir bei, als ich fünf Jahre alt war; man würde von innen zerfressen werden, so wie es sich für einen Sünder gehörte. Ich stellte mir Killerzellen vor: höhnische, schwarz gestreifte Gesichter, bekrallte Fäuste, blutige Reißzähne. Als ich fünf Jahre alt war, fing ich an, auf den Tod zu warten.

Der Meister hatte meiner Mutter eine Landkarte eingeschrieben, ein System seiner Ordnung. Ohne ihn war sie nur ein winziger Punkt im Weltall gewesen – in seinem Licht wurde sie Sternbild. Er war der Trost, den sie nie gekannt hatte, er war die Antwort auf jede Frage, die Geschichte eines schöneren, besseren Ichs. Sie sah sich mit ihm Bergrücken überfliegen, Wolken aufspießen und Schneedecken schmelzen. Dank der durchfasteten Tage und durchwachten Nächte sah sie ganz deutlich, dass ihre Erleuchtung kurz bevor stand.

Die Realität aber war ein Sturm, der ihr immer wieder ins Gesicht schlug und die Augen tränen ließ. Das Arbeitsamt. Die Sparkasse. Die Eltern, die einfach nicht begreifen wollten, dass es noch einen "Fortgeschrittenenkurs" brauchte, um endlich fliegen zu lernen. Ihr Kind, das sich erdreistete, eine Ehre als Missbrauch zu bezeichnen. Ihre Freundin, die starb, weil sie trotz schwerer Krankheit nicht zum Arzt gegangen war: Ärzte, so hatte uns der Meister eingebläut, verschrieben tödliches Gift – und krank wurde ohnehin nur der, der gesündigt hatte. Medienberichte über das Verschwinden millionenhoher Spendengelder, über exzessive Immobilienkäufe, dubiose Firmengründungen, -auflösungen und -verlagerungen, über die Familie des Meisters, die ganz plötzlich aus der Mittelschicht zu einer der reichsten Indiens aufstieg, über Zwangsmaßnahmen, finanzielle und emotionale Ausbeutung bis hin zu Mord.

Wenn die Realität sich zwischen meine Mutter und den Meister schob, fürchtete sie, dass aus ihrer Erleuchtung nichts werden würde. Dass sie dieses und alle folgenden Leben in unserer winzigen Wohnung verbringen musste, mit ausgefranstem Teppich, ungeputzten Fenstern und den von meinem Vater eingetretenen Türen.

Populisten haben viel mit Sektenführern gemein

Viele der jungen Erwachsenen, die wie meine Mutter in den 1970er Jahren Scientology, den Moonies oder der Transzendentale-Meditation-Bewegung beitraten, waren aus der Generation der Yuppies herausgefallen, ohne Spuren zu hinterlassen: Sie hatten keine oder schlecht bezahlte Arbeit, sie konnten sich weder Autos noch teures Wohnungsinterieur oder auch nur Besuche in exklusiven Restaurants leisten. Ihre Eltern, vor allem die Väter, waren vom Zweiten Weltkrieg traumatisiert, die Erziehung war autoritär, das Vertrauen in Politik und Kirche erschüttert, die Angst vor einem Atomkrieg allgegenwärtig.

Maharishi Mahesh Yogi gab sich – ein kluger Schachzug im Atomzeitalter – als Physiker aus. Er besang eine Vergangenheit, in der alles besser gewesen war, er legitimierte die Ängste der Menschen in dieser angeblich dunklen, verderbten Zeit und er versprach nicht nur Sicherheit, sondern auch Selbstermächtigung: Er würde die Welt retten, gemeinsam mit seinen Anhängern. Maharishi Mahesh Yogi nutzte die Leerstellen, die aus politischen und gesellschaftlichen Versäumnissen heraus entstanden waren, so, wie populistische Politiker heute die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise, die Angst vor Terrorismus und die ausgehöhlte Selbstverwirklichungsideologie des Neoliberalismus für sich nutzen. Dass Ivanka Trump auf ihrem Blog Werbung für Transzendentale Meditation macht, kann kaum verwundern: Die haltlosen Versprechungen der Sekte passen hervorragend zum unterkomplexen politischen Programm ihres Vaters.

Meiner Meinung nach haben Populisten viel mit Sektenführern gemeinsam: Sie lassen keine andere Deutung der Realität zu als ihre eigene; sie diffamieren ihre Kritiker als Lügner und Kriminelle; sie stellen demokratische Strukturen infrage und werben mit grandiosen Heilsversprechen. Erfolgreich sind sie gerade deswegen, weil sie keine konkreten, realistischen Lösungsansätze entwickeln. Populisten und Sektenführer sind immer nur Stichwortgeber: Die eigentliche Geschichte nimmt erst in den Köpfen ihrer Anhänger Gestalt an. Hier erst entsteht und erstarkt das Narrativ einer glanzvollen Vergangenheit und einer glorreichen Zukunft. Das gemeinsame Ziel, sei es der Himmel auf Erden oder nur ein Great-again-America, ist symbolisch so überfrachtet, dass es den Anhängern überweltliche Autorität zu verleihen scheint. Deswegen stehen die einen ratlos vor einem Mann, der Unsinn in die Welt trompetet, während die anderen einen charismatischen Macher feiern.

Ein privates Wahrheitsuniversum

Anhänger suchen nicht nach Erkenntnis, sondern nach Erlösung. Sie glauben nur noch das, was sie gerade brauchen, sie driften in ein privates Wahrheitsuniversum ab, in dem alternative Fakten schwerer wiegen als der Common Sense. Die Anhänger von Maharishi Mahesh Yogi werden ein Leben lang darauf warten, dass sie zu fliegen beginnen; Trumps Anhänger werden vielleicht ein Leben lang daran glauben, dass Hillary Clinton einen Kinderpornoring in einer Pizzeria betreibt, statt die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass sie sich haben betrügen lassen. Jeder Angriff auf den Führer fühlt sich an wie ein persönlicher Angriff, ein Angriff auf ihre Identität, ihre persönliche Heldengeschichte.

Die Sekte Transzendentale Meditation erlebt derzeit eine Renaissance. Nicht nur die Tochter des US-Präsidenten, auch Prominente von David Lynch über Lena Dunham und Ellen DeGeneres bis hin zu Oprah Winfrey bewerben die Sekte öffentlichkeitswirksam; in Deutschland hat ein hochrangiges Mitglied den Trainer von Borussia Dortmund, Thomas Tuchel, missioniert und durchgesetzt, dass die komplette Fußballmannschaft "eingeführt wird", wie es in der Sekte heißt.

Es ist Zeit, dass wir damit aufhören, Menschen, die sich von den Grundwerten unserer Gesellschaft abwenden, als harmlose Spinner abzutun. Wir müssen nach ihren Motiven fragen, und zwar, bevor diese Menschen unbequem werden. Bevor Sektenmitglieder Anschläge verüben, bevor "plötzlich" populistische Parteien erstarken, bevor der nächste Donald Trump Regierungschef wird. Es wird Menschen geben, die nicht mehr aus ihrem privaten Wahrheitsuniversum herausfinden. Meine Mutter hat für den Meister alles aufgegeben, was ihr einmal wichtig war, und hat sich bis ins Rentenalter keinen Zweifel erlaubt. Sie ist verloren, auch wenn ich nie damit aufhören werde, sie retten zu wollen.
Es lohnt sich weiterzumachen. Für alle, die noch zu retten sind. Es lohnt sich, um verbindliche Werte zu kämpfen. Sie sind der Boden, auf dem wir einander begegnen können.

Valerie Graf ist nicht der richtige Name unserer Autorin. Sie arbeitet als Journalistin und schreibt diesen Artikel unter Pseudonym als Gastbeitrag für "10 nach 8".

 

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