10 nach 8: Övul Durmusoglu über die Türkei

 
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22.03.2017
 
 
 
 
10 nach 8


Gegen Vater Staat
 
Die Türkei ist seit Atatürk patriarchal geprägt. Frauen aller politischer Couleur sind daher heute die stärkste Opposition – und die Hoffnung des Landes.
VON ÖVUL DURMUSOGLU

Der 15. Feministische Nachtmarsch auf der Istanbuler Istiklal-Straße am 8. März © Bulent Kilic/AFP/Getty Images
 
Der 15. Feministische Nachtmarsch auf der Istanbuler Istiklal-Straße am 8. März © Bulent Kilic/AFP/Getty Images
 
 

Die psychogeografische Textur der Türkei hat sich um die Vaterfigur Mustafa Kemal Atatürk gesponnen. Männer wie Frauen unterwarfen sich seiner Autorität. Der säkulare Republikgründer trug das Patriarchale schon im Namen – Atatürk, Vater der Türken. Dieser patriarchalische Komplex des Landes zeigt sich immer wieder im Spannungsfeld zwischen dem Traditionellen und dem Progressiven, das die Türkei kennzeichnet. So war die Türkei zwar eins der ersten Länder, die Frauen im Zivilgesetzbuch politische Rechte garantierten, doch die traditionellen Familienstrukturen erlauben bis heute Ehrenmorde und häusliche Gewalt.

Die feministische Bewegung hat in diesem Spannungsfeld gegen viele Rückschläge gekämpft, seien es Kinderehen, Ehrenmorde oder Hassverbrechen. Sie hatte aber auch den seit der Staatsgründung geltenden Kopftuchbann an Universitäten kritisiert, der auf Initiative der AKP vor einigen Jahren aufgehoben worden war: "Ich kann Kopftuch oder Minirock tragen. Es ist meine persönliche Entscheidung und geht euch nichts an!" Der Feminismus hat daher Überschneidungen mit verschiedenen Bewegungen, mit LGBTI, mit den Linken, mit der kurdischen Bewegung – und mit den Islamisten.

Die erste öffentliche feministische Demonstration nach dem Putsch von 1980 fand 1987 statt, als eine große Menge symbolträchtig auf die Straßen ging, um gegen häusliche Gewalt zu protestieren. Die Leute von damals organisieren die Bewegung bis heute. Obwohl der Ausdruck "Feministin" auch als Schimpfwort missbraucht wird, gehen Frauen seither immer wieder auf die Straße. Sie haben wichtige Verbesserungen erkämpft, beispielsweise durch klare Definitionen von sexueller Nötigung und häuslicher Gewalt. Frauen lernten ihre Rechte kennen. Es wurden Schutzhäuser gegründet. Wichtige feministische Publikationen wie die in den 1990ern gegründete Pazartesi ("Montag") und die in den 2000ern gegründete Amargi ("Freiheit" auf Sumerisch) nehmen seither an der öffentlichen Debatte teil.

"Echte Gerechtigkeit, keine Männergerechtigkeit!"

Am 8. März 2017 fand der 15. Feministische Nachtmarsch auf der Istanbuler Istiklal-Straße statt, eine beeindruckende Versammlung, die ich gern miterlebt hätte. Solche Veranstaltungen zeigen deutlich, dass die Frauen heute die stärkste Opposition sind – und die Hoffnung für die Zukunft der Türkei. Im derzeitigen repressiven Klima, in dem sich viele Menschen aus Angst aus der Öffentlichkeit zurückziehen, gehen Cis- und Trans-Frauen mit Hexenhüten und Kopftüchern auf die Straße und halten große lila Banner hoch: "Gemeinsam stärker". Auf den Fotos, die in den Regierungsmedien nicht gezeigt wurden, sieht man Zehntausende Frauen aus verschiedenen Generationen, verschiedenen Schichten, verschiedenen Glaubensrichtungen, die gemeinsam gegen den Hegemonialdiskurs und gegen eine Politik marschieren, die den sunnitischen, nationalistischen, heterosexuellen Mann (und seine Familie) privilegieren und schützen. "Echte Gerechtigkeit, keine Männergerechtigkeit!" "Keine Gerechtigkeit ohne Gleichberechtigung!" "Wir wollen über unser Leben bestimmen!" "Lasst ab von der Hausarbeit, stoppt die Welt!" "Wir schulden weder Männern noch dem Staat Kinder!" "Unser Leben, unser Körper, unsere Entscheidung! Eure Familie!" "Stoppt Mord, nicht Scheidung!" Während der Marsch in Istanbul mit Sprechchören auf Türkisch, Englisch, Kurdisch und Armenisch endete, kam es in Ankara zu Polizeieinsätzen und Festnahmen.

Die Rechtsanwältin Meriç Eyüboğlu betont die Bedeutung des Zusammenhalts, den die Mehrheit der Frauen trotz des schwerwiegenden Verlusts von Rechten und trotz der Gesetzesübertretungen, die sich im letzten Jahr ereignet haben, empfindet. Auch die bunten HAYIR-Schilder ("Nein") haben große Symbolkraft in einer Gesellschaft, in der Frauen in vielen Situationen nicht das Recht haben, "Nein, ich will nicht" zu sagen – ein Phänomen, das sich nicht nur in der Türkei, sondern auch in anderen Gesellschaften beobachten lässt. "Frauen haben viele Neins", ergänzt Eyüboğlu, "und das Referendum ist eins davon".

Tradition und Fortschritt rücken noch weiter auseinander

Aksu Bora, eine der wichtigen Protagonistinnen der Bewegung, sagt, dass die Bewegung, nachdem sie lange Zeit um Anerkennung kämpfen musste, nun zu einer Kraft geworden sei, die von jenen gefürchtet wird, die Rechte missachten und unterdrücken. Als die Regierungspartei im vergangenen November versucht hatte, das Mindestalter für Kinderehen zu senken und mit einem Mitternachtsbeschluss die Zustimmung zur Heirat mit dem Täter in Fällen von schwerer sexueller Nötigung zu erzwingen, hatten verschiedene Frauenrechtsgruppen einen so großen Protestmarsch zum Parlament und so viel öffentliche Unterstützung mobilisiert, dass die Regierung noch am Tag der Demonstration einen Rückzieher machte.

Die Türkei befindet sich zwar seit jeher auf einem schmalen Grat zwischen Tradition und Fortschritt, doch derzeit rücken die zwei Pole der Gesellschaft gefährlich weit auseinander. Das soziale Gewebe, das die Menschen zusammenhält, wird durch die auf Konfrontation ausgelegte Politik aufgelöst, mit der die Regierung ihre Macht sichern will. Die AKP mischt sich immer mehr in die Privatsphäre ein, bis hin zur Bekleidung. Parteimitglieder wollen bestimmen, was Frauen dürfen und was nicht; das Spektrum reicht von Abtreibung bis zur Diskussion um flexiblere Arbeitszeiten. Frauen sind Männern nicht gleichgestellt. Sie sollen mindestens drei Kinder haben (in Europa am besten fünf). Sie dürfen sich schwanger nicht in der Öffentlichkeit zeigen, nicht lachen, nicht über ihre Sexualität sprechen.

Die hypermaskuline Hegemonie

Der reaktionäre Populismus, der von ethno-religiösen Wellen getragen wird, wächst mit der Sehnsucht nach Festlegung, nach einer Antwort auf die Frage: "Wer bist du?" Für die hypermaskuline Hegemonie sind die jahrzehntelangen Kämpfe von Arbeitern, Frauen, LGBTI, Umweltschützern und Migranten nichts als Schwächen, die es auszumerzen gilt. Daher ist es unsere Verantwortung, eine neue Sprache des Widerstands zu entwickeln und für das einzutreten, was gewonnen wurde. Die Frauenstreiks in Polen, die massiven Proteste gegen Frauenmorde in Argentinien, die Women's Marches nach Trumps Amtseinführung zeigen, dass Frauen rund um die Welt mit ähnlichen Bedrohungen zu kämpfen haben, und dass sie, wenn die Regimes immer autoritärer werden, auf die Straßen gehen.

Aber es sind nicht nur solche Regierungen, die Politiker, die offen in eine misogyne Sprache zurückfallen. Solange die Justiz kein ausreichendes Strafmaß für Sexualverbrechen, häusliche Gewalt und Hassmorde verhängt, bilden sich Mitglieder der Öffentlichkeit ein, es stünde ihnen frei, die Rechte anderer zu missachten. Im vergangenen Jahr etwa trat in Istanbul ein Mann in einem öffentlichen Bus einer jungen Krankenschwester ins Gesicht, weil sie kurze Hosen trug. Der türkische Premierminister kommentierte: "Es mag dir nicht gefallen, aber du darfst nur murren." Genau dieses Murren des Missfallens wird von manchen Männern jedoch als Rechtfertigung benutzt, Frauen anzugreifen, zu ermorden, Kinder zu vergewaltigen. Der Täter aus dem Bus, der sich vor Gericht mit islamistischen Referenzen und seiner labilen geistigen Verfassung verteidigte, wurde dreimal frei gesprochen. Doch weder das Opfer noch die Frauenorganisationen gaben den Fall auf, bis am Ende die Frauen- und Familienministerin verkündete, der Täter werde seine angemessene Strafe erhalten. Dieser Fall zeigt, dass auch die Gesellschaft definiert, wie eine anständige Frau zu sein hat. Konservative Frauen sollten hier genauso auf der Seite des Opfers stehen, wie Feministinnen sich für das Recht ausgesprochen hatten, Kopftuch zu tragen.

Ein neuer Traumazyklus

Nach der Wahl im Juni 2015 wurde der männliche Hegemonialdiskurs in der Türkei für kurze Zeit – fünf Monate – unterbrochen, als die Zahl der weiblichen Parlamentsmitglieder auf 97 stieg, die höchste Zahl in der Geschichte des Landes. Die Nominierungen von Frauen in der prokurdischen, linksgerichteten HDP hatten die anderen Parteien ermutigt. Allerdings sank die Zahl nach der Wahl im November 2015 wieder – sogar unter das Ergebnis von 2011. Seit die Regierung das Ende des Friedensprozesses mit den Kurden verkündet hat, verbreiten sich Angst und Schrecken im ganzen Land. Die Regierungspartei hat zahlreiche Wahlbezirke in südöstlichen Städten übernommen und Treuhänder eingesetzt anstelle von früheren, von der HDP ernannten Co-Chairs: Posten, die sich ein Mann und eine Frau geteilt hatten. Damit wurde eine wichtige strukturelle Geste hinsichtlich der Geschlechtergleichheit ausradiert. Doch kurdische Aktivistinnen schlagen schon eine andere Neuerung vor: Unter dem Titel Jineoloji – radikales Denken aus Frauensicht wollen sie die Diskussion über Gleichberechtigung in der Türkei und im Nahen Osten eröffnen. Jineoloji wurde bereits auf verschiedenen Konferenzen in der Türkei, Deutschland und Frankreich diskutiert.

Die Saga der Vaterfigur und der entmachteten untertänigen Öffentlichkeit definiert weiterhin den patriarchalischen Komplex. In den letzten zehn Jahren wurde sie jedoch durch die Figur des "Reis" (Kopf) ersetzt: Familienoberhaupt, Staatsoberhaupt. Dieser Wandel hat einen neuen Traumazyklus ausgelöst: Es vollzieht sich eine psychologische Operation der Angst und Kontrolle auf verschiedenen Ebenen, die die Menschen zwingen soll, zu akzeptieren, dass es keine andere Art zu leben gibt, dass es nicht lohnt, sich aufzulehnen.

Noch während ich diesen Text schreibe, wurde LGBTI-Aktivistin und Transfrau Kıvılcım Atar auf dem Weg zu einer Frauenrechtskonferenz in Deutschland aus noch unklaren Gründen am Flughafen festgenommen und wieder freigesetzt. Kein Wunder, wenn nach einem so starken, mitreißenden Oppositionsmarsch eine bekannte Aktivistin aufgehalten wird. Denn konservativ oder progressiv, cis oder trans, queer oder straight: Die Frauen, die am 8. März demonstriert haben, zeigen, dass die Türkei größer ist als die derzeitige Krise. Trotz allem stehen sie ein für Frieden, für Gerechtigkeit, für Gleichheit, für Freiheit. Gemeinsam stärker, um den Konflikt mit dem Vater zu lösen, vor den das Land sie immer wieder neu stellt.

Aus dem Englischen von Sophie Zeitz

Övül Ö. Durmusoglu ist Kuratorin, Autorin, und forscht über Themen an der Schnittstelle von Gegenwartskunst, Politik, kritische Theorie und Gender. Sie lebt in Berlin und ist Gastautorin von "10 nach 8".


 

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