Fünf vor 8:00: Wenn du es zerstörst, gehört es dir - Die Morgenkolumne heute von Michael Thumann

 
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06.01.2017
 
 
 
 


 
Wenn du es zerstörst, gehört es dir
 
Russland, Türkei und Iran entscheiden über Syriens Zukunft. Sie könnten Frieden schaffen und haben sich doch eine Menge vorgenommen.
VON MICHAEL THUMANN

Für viele im Westen ist 2016 das Jahr, das so viele Gewissheiten über den Haufen geworfen hat. In Syrien war dieses Jahr schon 2011. Seither geschah, was sich 2010 niemand vorstellen konnte: Millionen Flüchtlinge, Hunderttausende Tote, Giftgaseinsätze, Flächenbombardierungen, Aushungern. Zu den Katastrophen kommt nun eine weitere Überraschung: Für den Westen ist kein Platz mehr am Verhandlungstisch. Syrien ist seit Menschengedenken der erste große multinationale Konflikt, an dessen Lösung kein westlicher Staat wesentlich beteiligt ist. Das wird Geschichte machen.

Wenn sich in zwei Wochen Russen, Iraner, Türken und Syrer zur Friedenskonferenz im kasachischen Astana treffen, werden weder die USA noch die Europäer dabei sein. Auch wird der UN-Aufkleber fehlen. Das hat eine innere Logik. Denn mit Iran, der Türkei und Russland sitzen die drei wichtigen Interventionsmächte am Tisch. Jene Staaten, die diesen Krieg mit Soldaten, Panzern, Haubitzen und Flugzeugen geführt haben. Die Iraner kämpfen mit Revolutionsgardisten und schiitischen Milizen. Die Türken stehen mit Panzern und Truppen im Norden Syriens. Und die Russen bombardieren im ganzen Land und haben Truppen und Militärberater in Syrien.

Es lassen sich noch weitere Staaten aufzählen, die den Konflikt mit Waffen und Material angeheizt haben, Saudi-Arabien, Katar und die USA zum Beispiel. Die USA bombardieren auch – die IS-Dschihadisten. Aber sie haben keine eigenen Streitkräfte entsandt, um den Krieg zwischen Assad und der Opposition zu entscheiden. Sie unterhalten keine Stützpunkte in Syrien wie die drei Interventionsmächte. Was immer sie tun in Syrien, läuft über türkischen Boden.

Die Nichtintervention der Vereinigten Staaten war eine bewusste Entscheidung des scheidenden US-Präsidenten Obama. Es war die Abkehr von der Politik seiner Vorgänger, in Konflikte wie in Bosnien-Herzegowina oder Kosovo militärisch einzugreifen oder sie wie im Irak selbst zu führen. Dafür hatte Obama weniger gute (bei der Verweigerung einer Flugverbotszone) und sehr gute Gründe (bei der Verweigerung der Entsendung von Truppen). Das Ergebnis: Wer nicht schießt, bestimmt auch nicht, wann andere das Schießen einstellen. Die USA können im UN-Sicherheitsrat über Syrien klagen und zetern, entschieden wird woanders. Donald Trump wird da keinen großen Unterschied mehr machen. Ein Deal mit ihm ist eigentlich überflüssig.

Jetzt sind jene Mächte am Zug, die alle Druckmittel in der Hand haben. Ohne Iran könnten Assads Milizen keinen Meter vorrücken. Ohne Russlands Bomben hätten die schiitischen Milizen nicht Aleppo zurückerobern können. Ohne die türkische Intervention würden die kurdischen Milizen den syrischen Norden beherrschen. Und ohne die Türken bekommen die Rebellen-Milizen keinen Nachschub mehr.

Eine Jugend, die nur noch Krieg kennt und keine Ausbildung

Diese drei Mächte könnten also den Krieg beenden, wenn sie nur wollten. Aber wollen sie? Nach wie vor sind die Gegensätze nicht ausgeräumt. Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdoğan hat für seine mühsam aufgewärmte Männerfreundschaft mit Russlands Präsident Wladimir Putin viel schlucken müssen: Dass Assad an der Macht bleibt, dass schiitische Milizen Aleppo erobern, dass die Sunniten in Syrien ihren Einfluss verlieren. Aber Erdoğan stützt weiter die sunnitischen Rebellen im Norden, die von Russen und Iranern bekämpft werden. Als in Ankara der russische Botschafter von einem sunnitisch-türkischen Attentäter erschossen wurde, lagen alle diese Widersprüche offen.

Doch am Zug sein heißt auch die Verantwortung tragen. "You break it, you own it" – "Wenn du es zerstörst, gehört es dir", warnte US-Außenminister Colin Powell vor der Irak-Invasion 2003 US-Präsident George W. Bush. In einer ähnlichen Lage wie Bush damals sind heute Russland, Iran und die Türkei. Syrien ist ein zerrüttetes Land mit vielen zerstörten Städten, kaputter Infrastruktur, marodierenden Milizen, einer Jugend, die nur noch Krieg kennt und keine Ausbildung. Die Dschihadisten aller Schattierungen sind noch lange nicht geschlagen. Die Rebellen unterm Bombenteppich verweigern die Gespräche. Der Krieg wird noch dauern. Moskau, Teheran und Ankara haben sich für ihr Treffen in Astana viel vorgenommen.

Was die USA nun machen werden, weiß noch keiner. Sicher ist nur, dass sich die UN und die EU nicht einfach abwenden. Sie werden weiter humanitäre Hilfe anbieten. Sie werden Flüchtlinge in den Nachbarländern versorgen. Sie werden auch Opfern in Syrien helfen. Aber die Wirkung ihrer Hilfe hängt von den drei Interventionsmächten in Syrien ab. Das ist die neue Realität von Astana. 
 
 


 
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