Fünf vor 8:00: So wie früher - Die Morgenkolumne heute von Michael Thumann

 
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 FÜNF VOR 8:00
27.01.2017
 
 
 
 


 
So wie früher
 
Populisten schwärmen von einer Vergangenheit, die nur in Erinnerungen existiert. Ihre Anhänger sind oft ältere Menschen, die heute das Lebensgefühl der 1960er vermissen.
VON MICHAEL THUMANN

Bei Anton Tschechow gibt es eine wunderbare Zeile über die Einstellung seiner Landsleute zu ihrer Geschichte: "Die Russen vergöttern die Vergangenheit, hassen die Gegenwart und fürchten die Zukunft." Es gibt sogar ein geflügeltes russisches Wort dafür: "Ransche bylo lutsche", was so viel heißt wie: Früher war alles besser.

"Stimmt doch!", sagen heute auch viele Menschen im Westen. Nach über 70 Jahren Frieden und präzedenzlosem Wohlstand im Westen macht sich bei ihnen Überdruss breit. Der Wohlstand reicht in ihren Augen nicht aus, jedenfalls nicht für sie persönlich, und den Frieden halten die meisten offenbar für selbstverständlich.   

Anders ist kaum zu erklären, dass knapp die Hälfte der amerikanischen Wähler einen Mann wie den Populisten Donald Trump ins Präsidentenamt gewählt hat. Einen aggressiven, strukturell wütenden Mann, der polarisiert und spaltet wie kein Präsident vor ihm. Der hält nun den Atomkoffer in der Hand und verspricht, dass alles besser wird. So wie früher eben. 

Mondraketen und Breschnew

"Make America great again!" Wie Trump berufen sich auch viele seiner angeblichen oder tatsächlichen Verbündeten in Europa auf ein imaginäres Atlantis, das irgendwo auf dem Meeresgrund der Vergangenheit leuchten soll. Man verspricht, dass die Zukunft besser werde, wenn sie sich an einer Erinnerung ausrichte, die hemmungslos verzerrt ist. Die Soziologin Karin Priester nennt den Populismus eine "rückwärtsgewandte Utopie einer romantisierten, unhistorischen, idealen Welt wie 'Middle America' oder 'La France profonde', für den im Deutschen der Begriff der 'Lebenswelt' steht."  

In jedem Land reden die Prediger des Präteritum anders. Russische Politiker befördern die Mystifizierung im Fernsehen, in Schulen, in politischen Reden und Ausstellungen. Die Lehrer russischer Schüler heißen heute Peter der Große und Nikolaus I.. Marine Le Pen beschreibt Frankreich als ein Land, das zu schöneren Zeiten glücklich abgegrenzt vor sich hinlebte, bevor die Globalisierung alles dahinraffte. Die AfD idealisiert, je nach Region, das beschützte Dasein im verriegelten DDR-Zoo oder in der Enge der alten Bundesrepublik. Trump beschwört die goldenen Zeiten des amerikanischen rust belt (Rostgürtel). 

Entscheidend ist die mythische Verklärung. In den Reden der Populisten gab es früher keine Fremden. Keine Flüchtlinge. Früher sei man nicht fremdbestimmt gewesen, von Brüssel, internationalen Organisationen wie der WTO oder von Freihandelsabkommen, die den Heuschrecken Türen und Tore öffneten. Populisten verklären implizit die 1960er und 1970er Jahre, als die Schlote rauchten und es auf der ganzen Nordhalbkugel aufwärts ging.   

Trump erzählt vom weißen Amerika, das Stahl, Autos und Mondraketen produzierte, ohne chinesische Werkbank. In Russland wärmt die Erinnerung an den KP-Chef Leonid Breschnew, unter dessen Herrschaft mehr Würste in den Läden zu kaufen waren als unter Michail Gorbatschow. In Deutschland und Frankreich tun Populisten so, als habe es in der DDR, in der Bundesrepublik und in Frankreich früher keine Probleme mit Migration gegeben. Sie nähren die Sehnsucht nach Abgrenzung und Eindeutigkeit, die es nie gegeben hat.  

Unruhen, Einwanderung, Kriegsflüchtlinge

Schaut man sich die Vergangenheit ohne mythische Dekoration an, weiß man: In den USA gab es in den 1960ern Unruhen und Aufstände, in Frankreich wanderten Millionen nach dem Zusammenbruch des Kolonialreichs ein. Beide deutsche Staaten waren Flüchtlingsstaaten, die nur langsam 17 Millionen vertriebene Deutsche aus Osteuropa integrieren konnten. Im Aufschwung lud die Bundesrepublik Millionen Gastarbeiter ins Land. Verwirrende Zeiten, damals wie heute.

Das tatsächliche Problem liegt darin, dass viele, die sich gern an der Vergangenheit wärmen, heute alt sind. Natürlich gibt es auch einige junge Leute unter den Anhängern der Populisten. Aber alt im Geiste kann man leider auch schon in jungen Jahren sein. Auf AfD-Veranstaltungen sind alte Menschen überrepräsentiert, bei Marine Le Pen und Donald Trump dito. Das Brexit-Referendum war eine Entscheidung der alten Briten. In den 1960ern waren sie alle jung. Das war ein anderes Lebensgefühl, das leider der Wut gewichen ist. Viele lasten es heute Politikern an, dass sie dieses Lebensgefühl verloren haben. Dabei können die da gar nicht viel machen.

Der russische liberale Oppositionspolitiker Grigori Jawlinski wollte auf einer Wahlveranstaltung herausfinden, was hinter diesem Gefühl steckt. "Bitte sagen sie mir", fragte er eine alte Frau, die laut vor sich hin schimpfte, "was konkret war denn früher besser?" Die alte Dame war überrascht, überlegte kurz und antwortete: "Nun, wissen sie, früher waren die Männer jünger." 
 
 


 
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THE GUARDIAN  Wild populism has a long history in US politics, but Trump is surely unique
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Fünf vor 8:00 ist die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE. An jedem Werktag kommentieren abwechselnd unter anderem Michael Thumann, Theo Sommer, Alice Bota, Matthias Naß, Martin Klingst und Jochen Bittner.