Freitext: Viktor Martinowitsch: Du sollst nicht duckmäusern

 
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07.03.2017
 
 
 
 
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Du sollst nicht duckmäusern
 
 
Osteuropa war ein Imperium der Feigheit. Der Schriftsteller Michail Bulgakow hat das Aufbegehren dagegen gelehrt. Nun erlebt man in Belarus das Aufblühen des Mutes.
VON VIKTOR MARTINOWITSCH

 
© Maxim Malinovsky/AFP/Getty Images
 
Meine erste Begegnung mit Michail Bulgakows Roman Der Meister und Margarita hatte ich Anfang der Neunziger, als mein Vater einen Samisdat-Matrizenabzug mit blassen Buchstaben und improvisiertem Wachstucheinband mit nach Hause brachte. Schon auf den ersten Seiten, auf denen zwei sowjetische Schriftsteller, die an Patriarchenteichen Aprikosenlimonade trinken, dem als Ausländer verkleideten Satan einreden wollen, er existiere in Wirklichkeit gar nicht, war mir klar, dass dieser Text mit großer Vorsicht zu genießen ist.

Für die sowjetischen Schüler, Lehrer, Ingenieure, Doktoren und sonstigen Atheisten, denen Bulgakow die Geschichte Christi erzählen wollte, waren das Bildnis des Jeschua Ha-Nozri, wie er bei Bulgakow heißt, und seine Lehre komplett identisch mit dem Wirken Jesu. Wir dachten, wir läsen eine literarisierte Nacherzählung des Evangeliums, und verstanden nicht, dass der Messias nicht in Gamala geboren sein konnte, dass man ihn nicht mit dem Fuhrwerk zur Kreuzigung gefahren haben konnte, dass er schließlich außer Levi Matthäus noch andere Anhänger hatte. Erst später erfuhr ich aus den Büchern von Irina Belobrowzewa und Wladimir Lakschin, dass Bulgakow Leben, Sprache und Topografie Judäas im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung sorgsam rekonstruiert hatte und dass „Jerschalaim“ dem galiläischen Dialekt des Aramäischen, den der Messias gesprochen haben könnte, wesentlich näher kommt als das moderne „Jerusalem“. Aber damals, Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre, war Voland der Teufel, Pilatus Pilatus und Ha-Nozri der, nach dem zu fragen in der Schule verboten war.

Vor allem deshalb, weil ihre Lehren sich so ähnlich sind. Beide, Jeschua wie Jesus, predigen das Gute. Die ganzen Nuancen, die sich erst nach und nach zu erkennen gaben, hatten eher etwas von einem intertextuellen Spiel des vielseitig beschlagenen Erzählers – etwa die komische Szene, in der Jeschua beim Verhör gefragt wird, ob er auf einem Esel reitend in Jerschalaim eingezogen sei (wie es beim Propheten Sacharja geschrieben steht). Und er antwortet: „Ich habe ja gar keinen Esel, Hegemon“.

Das zusätzliche Gebot in Der Meister und Margarita, das in keinem der Evangelien enthalten ist, habe ich erst viel später entdeckt, und seither lässt es mir keine Ruhe.


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